Snyder: Wenn Putins Macht wackelt, würde er weglaufen und verhandeln

Die Sorge um einen Nuklearkrieg ist unbegründet, Putins Macht endet wahrscheinlich mit einem Putsch und der Angriffskrieg auf die Ukraine wird kaum durch Verhandlungen enden. Historiker Timothy Snyder spricht im PULS 24 Interview über die Situation in der Ukraine.

Professor Snyder, Sie haben bisher recht behalten. Putins Atomdrohungen sind verpufft. Ihre Annahme ist, dass die Gefahr eines russischen Atomschlags sogar verringert wird, wenn der Westen der Ukraine Waffen liefert und so den Sieg ermöglicht.
Wie beurteilen Sie denn die gestern am NATO-Gipfel ausgesprochene Beitrittsperspektive für die Ukraine? Verändert das das Risiko einer nuklearen Antwort Russlands?

Generell glaube ich nicht, dass ein nuklearer Krieg ein großes Thema sein sollte. Ich glaube der Grund, warum wir darüber reden, ist, weil der Kreml uns einredet, dass das etwas mit den aktuellen Entwicklungen zu tun hat. Und ich glaube, wir suchen einen Grund, weniger aktiv zu sein. Die Angst vor einem nuklearen Krieg liefert uns einen Grund. Ich denke, es stimmt eher, dass das Risiko vor einem Nuklearkrieg gesenkt wird, wenn wir der Ukraine helfen.

Aus einem einfachen Grund: Wenn Russland erfolgreich ist, weil es einen Nuklearkrieg androht – und vor allem, wenn die Ukraine verliert, weil Russland einen Nuklearkrieg androht – dann werden alle kleinen Staaten schlussfolgern, dass sie nukleare Waffen brauchen, damit ihnen nicht das Gleiche passiert. Je mehr nukleares Aufrüsten es gibt, desto höher ist das Risiko für einen nuklearen Krieg. Wenn man keinen nuklearen Krieg will, sollte man also auf einen Sieg der Ukraine hoffen.

Ich glaube nicht, dass das viel mit dem NATO-Gipfel zu tun hat. Ich glaube, je näher die Ukraine an der NATO und an einem Sieg ist, desto geringer ist das Risiko vor einer Konflikteskalation. Es ist sehr traurig, dass sie in einem Krieg sind – und jeder, der weitere Risiken verhindern will, muss hoffen, dass der Krieg bald endet. Und je mehr wir der Ukraine helfen, desto schneller wird das gehen.

Jetzt ist diese Nähe, die Sie angesprochen haben, von NATO zur Ukraine, gestern und heute noch nicht offiziell ausgesprochen worden. Es fehlt eine offizielle Einladung zum Beitritt an die Ukraine. Obwohl der ukrainische Präsident Selenskyj natürlich vehement darauf drängt. Ist das ein strategischer Fehler der NATO gewesen? Und konnte Selenskyj überhaupt damit rechnen, eine Einladung auf den Gipfel zu bekommen?

Also meine Meinung ist, dass die Ukraine in der NATO sein sollte und dass das die Dinge vereinfachen und mehr Sicherheit schaffen würde. Wenn die Ukraine Teil von der NATO wäre, könnten deren Mitglieder sagen: „Wir antworten jetzt auf diesen Angriff auf die Ukraine. Wir liefern Waffen, wir bieten humanitäre Unterstützung und so weiter.“ Das wäre eine viel einfachere Situation als die, in der wir jetzt sind.

Ich denke, es ist ein strategischer Fehler, die Ukraine nicht aufzunehmen. Und ich denke, es ist ein noch schlimmerer Fehler, dass wir das aus dem Grund nicht machen, dass wir eine „Eskalation“ auf russischer Seite befürchten. Das ergibt keinen Sinn. So signalisieren wir Russland, dass sie es in der Hand habe, wer der NATO beitreten kann, und wer nicht. Das ist das falsche Signal.

Entscheidend für eine umfassende Niederlage Russlands dürfte auch ein Teil des Erfolgs der ukrainischen Gegenoffensive diesen Sommer sein. Wenn sich die militärische Front bis Herbst wenig bewegt, oder weiter vorne ist als jetzt, wird das dann die Grundlage für mögliche Verhandlungen?

Ich bezweifle das. Das Verstreichen der Zeit hilft der Ukraine. Für Russland ist das ein Krieg, den sie gewinnen müssen. Die russische Propaganda will ja weismachen „Wir sind eine Supermacht, die Ukraine gibt es eigentlich gar nicht.“ Und wenn das dein Ausgangspunkt ist, dann ist es schwer, einen Verteidigungskrieg zu rechtfertigen, den man noch dazu langsam verliert. Es wäre also besser, wenn die Ukraine rasche Gewinne einfahren kann. Aber selbst wenn die russische Front nur Stück für Stück nach hinten gedrängt wird, ist das für die Russen ja viel schlimmer, als es umgekehrt für die Ukraine wäre. Ich denke, das setzt das russische Polit-System unter Druck.

Ich denke also nicht, dass die Ukraine in der Situation zu Verhandlungen bereit sein wird. Die Russen werden vielleicht ihre Strategie umdenken, aber verhandeln werden sie wohl auch nicht wollen. Ich denke ehrlich nicht, dass dieser Krieg generell mit Verhandlungen enden wird. Er wird enden, wenn Russland keinen Krieg mehr führen kann. Das werden sie sich dann auch nicht eingestehen können, sondern ihren Fokus woanders hinverlegen.

Das haben Sie auch schon angesprochen. Sie sagen, dass Kriege dann enden, wenn die politische Macht der Machthaber bedroht wird. Vor wenigen Wochen konnte man vielleicht kurz daran glauben, als die Wagner-Söldner von Jewgeni Prigoschin kurz vor Moskau gestanden sind.
Hat dieses Manöver gezeigt, dass es zumindest denkbar ist, dass Putins Macht zu Ende gehen könnte?

Ja, ich denke das ist eine sehr gut formulierte Frage. Damals hat uns das eine Art Vorschau gegeben, wie es sein wird. Und obwohl es ein sehr seltsamer Vorfall war, war es insgesamt auch irgendwie beruhigend. Weil es uns gezeigt hat: Wenn Putins Macht bedroht wird, eskaliert die Situation nicht gravierend. Er droht ein wenig. Wenn das nicht funktioniert, verhandelt er einen Deal aus.

Unterdessen flog er damals von Moskau nach St. Petersburg und inspiziert eine Yacht. Das sind keine Handlungen von einem Mann, der eine Katastrophe auslösen wird, wenn man jetzt auch nochmal zur ersten Frage über den Nuklearkrieg zurückgeht. Dieses Szenario erscheint surreal, wenn wir jetzt wissen, was Putin machen würde, wenn seine Macht wackelt. Er würde weglaufen und verhandeln. Das war's.

Wenn Putin fällt, wird es eine neue Machtverteilung geben. Ich hoffe, dass das demokratische Wahlen beinhaltet, aber so oder so, sie werden einen Weg finden. Aber es wird kein Chaos ausbrechen. Es wird sich einfach die Macht innerhalb von Russland verschieben.

Könnte Putin - wenn überhaupt - dann nur durch einen inneren Putsch vom Thron gestoßen werden? Oder könnte es sein, dass das russische Volk doch weniger apathisch wird und der Druck von der Straße letztendlich größer wird? Oder überhaupt mal beginnt?

Es ist so schwer, vorherzusagen, was in Russland passiert. Wenn man sich die russische Geschichte anschaut, merkt man: Dort ist so gut wie alles schon passiert. Putin ist praktisch durch die fälschliche Provokation von Krieg an die Macht gekommen. Davor gab es 1991 einen Putsch, bei dem Gorbatschow seine Macht verloren hat. Deutschland ist 1941 einmarschiert, was fast Stalin gestürzt hätte. Es gab Lenins Tod und einen langen Machtkampf danach. Die Revolution 1917. Die Revolution 1905. Immer wieder gibt es diese speziellen Regimewechsel in Russland. Manchmal ist das Volk involviert, manchmal nicht.

Jetzt ist es aber schwierig für die Bevölkerung, sich zu organisieren. Denn die Mutigsten unter ihnen sind weitestgehend im Gefängnis oder im Ausland. Die Krise muss sich also noch sehr zuspitzen, bis sie selbst beginnen zu agieren. Am wahrscheinlichsten ist wohl ein Putsch, der nicht klar in eine Richtung geht, wo Menschen wählen, auf wessen Seite sie stehen.

Eine schnellere Entscheidung könnte es nächstes Jahr geben, bei der US-Präsidentschaftswahl. Wie entscheidend wäre denn der Wahlsieg von Joe Biden über den mutmaßlichen Herausforderer Donald Trump? Würde Trump die US-Hilfen an die Ukraine stoppen? Und wie könnte Europa diesen Ausfall überhaupt kompensieren?

Ich mag den zweiten Teil dieser Frage – weil ich es für wichtig halte, dass Europäer sagen: „Das ist unser Krieg.“ Es ist kein US-Krieg, die USA sind weit weg. Man kann sie für vieles kritisieren, aber sie hatten recht mit der Annahme, dass Russland die Ukraine angreifen wird. Und die Biden-Regierung hat auch gewusst: Wir werden hier die Hilfe von Europa brauchen. Die USA schaffen es nicht ohne Europa. Aber wissen Sie was? Europa schafft es ohne die USA.

Sich wegen Trump Sorgen zu machen, spielt in diesen Gedanken, dass Europa es nicht allein stemmen kann. Doch das könnt ihr. Euer wirtschaftliches und militärisches Potenzial ist viel größer als das von Russland. Es ist wichtig, sich auf die Möglichkeit vorzubereiten, dass man ohne die US-Hilfen klarkommen muss. Ich meine, wenn Trump gewinnt, könnten noch weitaus schlimmere Dinge passieren. Der europäische Gedanke sollte jedenfalls sein: Wenn Trump gewinnt, übernehmen wir die Verantwortung für die Ukraine. Nicht, wenn Trump gewinnt, dann werfen wir das Handtuch.

Derzeit unterstützen die USA ja die Ukraine – und das tun sie sogar mit umstrittener Streumunition, die Russland natürlich verwendet, die aber weltweit durchaus geächtet wird. Weil die vielen Blindgänger ähnlich wie bei Landminen jahrelange Todesfallen sein können. Ist die Lieferung von solcher Munition Ihrer Meinung nach zu rechtfertigen?

Ja, das denke ich. Die Menschen in der Biden-Regierung, die diese Entscheidung getroffen haben, haben sehr lange darüber nachgedacht. Sie kennen die Argumente auf beiden Seiten. Ich möchte vorausschicken: Ich wünschte wir würden in einer Welt leben, in der es nicht solche Waffen oder Landminen oder ähnliches gibt. Entscheidend ist hier jedenfalls: Die Ukraine führt einen Verteidigungskrieg auf dem eigenen Land. Sie sind diejenigen, die die Landminen oder Reste von Streumunition auf ihrem Gebiet entfernen müssen, wenn das alles vorbei ist. Das ist ihr Land und ihre Verantwortung.

Wenn sie also sagen: „Wir glauben dennoch, dass diese Waffen insgesamt betrachtet Leben retten werden.“ – dann haben sie auch das Recht, diese Entscheidung zu treffen. Wenn sie das wollen, sollten wir es ihnen auch geben. Und eines möchte ich noch hinzufügen: Ich denke, wenn dieser Krieg vorbei ist, sollten die Ukraine und die USA eine Abmachung unterschreiben, dass sie das nicht wieder machen werden. 

Ich möchte zur österreichischen Ukraine-Politik kommen. Professor Snyder, hier verfolgen wir Debatten um Minenräumung in der Ukraine durch das Bundesheer oder um die Ausbildung ukrainischer Soldaten an Leopard-Panzern – oder auch um die Mitwirkung an Sky Shield. Immer mit einem strikten und vehementen „Njet“ der FPÖ, die in den Umfragen derzeit natürlich Nummer Eins ist.
Wie sehen Sie die aktuelle Ukraine-Politik der österreichischen Bundesregierung und die Politik, die kommen könnte, sollte Herbert Kickl die Kanzlerschaft übernehmen? 

Ich muss das eher generell beantworten, weil ich erst in Österreich angekommen bin, und mich bisher eher auf die Ukraine, Russland oder die USA fokussiert habe. Ich werde also zwei grundsätzliche Sachen sagen: Einerseits denke ich, dass es komplett legitim ist, dass Österreich eine eigene Außenpolitik hat, die sich von Deutschland, dem Westen, der USA unterscheidet. Es ist verständlich, dass Österreich durch die Neutralität einen besonderen Platz in der EU-Konstellation hat.

Aber: Neutralität ist etwas sehr anderes, als sich auf die Seite des Aggressors zu stellen. Und wenn man Außenpolitik betreibt, muss man sehr vorsichtig sein, Neutralität nicht als Ausrede zu nutzen, den einfachen Weg zu nehmen. Und das einfachere ist oft, die aggressivere Seite einfach agieren zu lassen, wie sie will.

ribbon Zusammenfassung
  • Die Sorge um einen Nuklearkrieg ist unbegründet, Putins Macht endet wahrscheinlich mit einem Putsch und der Angriffskrieg auf die Ukraine wird kaum durch Verhandlungen enden.
  • Historiker Timothy Snyder spricht im PULS 24 Interview über die Situation in der Ukraine.