Lehrermangel: "Du bist einfach nur ein Volltrottel in einem großen System"
"Ich sehe meine Zukunft definitiv nicht in der Schule", sagt die 24-jährige Marlene. Sie arbeitet derzeit noch in einer Mittelschule in Niederösterreich. Lange wird sie dort nicht mehr bleiben: "Ich sehe es nicht ein, in einem System zu arbeiten, das gegen die arbeitet, die nicht in dieses System passen – und zwar gegen Schüler:innen und Lehrer:innen."
Marlene ist nicht allein. Genau wie ihr geht es etwa auch Ivana, Gymnasial-Lehrerin in Wien, die derzeit ständig mit dem Gedanken spielt "einfach hinzuschmeißen". Oder Leona, sie arbeitet in Graz und überlegt "nach jedem Schultag" aufzuhören. Alle drei haben erst vor Kurzem mit ihrem Beruf angefangen und heißen eigentlich anders. Solange sie noch im Schuldienst arbeiten, möchten sie anonym bleiben.
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In Wien geht pro Tag eine Lehrperson
"In Wien löst im Prinzip täglich eine Lehrperson den Dienst auf", erklärt auch Thomas Krebs mit Blick auf die allgemeinbildenden Pflichtschulen, deren oberster Gewerkschaftsvertreter (FCG) er in der Bundeshauptstadt ist. Diese Zahl bezieht sich einzig auf jene Personen, die sich selbstständig aus dem System zurückziehen. Weder Versetzungen noch Pensionierungen sind darin eingerechnet.
Im November habe dieser Wert zugenommen, Richtung Weihnachten würde er weiter stark steigen. "Wir haben vier große Schulen geleert, was das Personal betrifft", erklärt Krebs. Währenddessen würde niemand nachkommen: "Es gibt so gut wie keine qualifizierten Bewerbungen."
Weder neu noch überraschend
Dass es den österreichischen Schulen an Personal mangelt, ist kein unbekanntes Problem. Seit mindestens zehn Jahren weiß man, dass sich mit der Pensionierungswelle der geburtenstarken Jahrgänge eine Lücke auftun wird. 20.000 Lehrpersonen werden in den kommenden fünf Jahren in Pension gehen. Das Personal fehlt insbesondere in Fächern wie Mathematik, Physik, aber auch Englisch und Deutsch. In den Pflichtschulen ist die Situation besonders angespannt.
Im Herbst hat sich das Bildungsministerium eingeschalten. Bildungsminister Martin Polaschek kündigte "die größte Lehrkräfteoffensive der Zweiten Republik an". Er verspricht "die Erzählung von Schule zu modernisieren", dem Beruf ein besseres Image zu verpassen und Quereinsteiger:innen den Zugang zu erleichtern. Es gehe darum, viele unterschiedliche Personen für den Beruf zu begeistern.
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Personal kann nicht gehalten werden
Ob die Maßnahmen des Ministeriums wirken, ist noch offen. Neben der Pensionierungswelle kämpfen die Schulen eben derzeit auch damit, aktuelles Personal zu halten. "Wir haben ständig Anfragen von jungen Lehrpersonen, die aufgrund von Überlastung aus dem Dienst ausscheiden wollen", bestätigt Herbert Weiß, der Gewerkschaftsvorsitzende der AHS-Lehrer:innen, das Phänomen auch für seinen Schultyp. Das neue Dienstrecht habe zu "massiven Mehrfachbelastungen" geführt.
Dem stimmt auch Ivana zu: "Das neue Dienstrecht ist so ausgelegt, dass die Leute nicht dableiben wollen." Auf längere Sicht zahle sich der Lehrberuf für sie schlicht nicht aus – finanziell und inhaltlich. "Die Workload ist einfach zu viel. Als neue Lehrerin kriegst du den ganzen Scheiß zugeschoben, den kein Mensch machen will."
Im alten Dienstrecht konnten junge Lehrpersonen ein Unterrichtspraktikum absolvieren. Sie hatten Betreuungslehrer:innen und unterrichteten nur wenige Unterrichtsstunden. Bei einer vollen Lehrverpflichtung im neuen Dienstrecht stehen sie von Beginn an viel länger in den Klassen und können oft nur unzureichend betreut werden.
Eine Stunde Freizeit pro Tag
In der Pandemie hat sich vieles im Schulwesen weiter zugespitzt. "Wir haben uns noch mehr mit Dingen beschäftigen müssen, die nicht unsere eigentlichen Tätigkeiten sind", betont Krebs. Bereits sehr junge Kolleg:innen würden mit Depressionen und Erschöpfungszuständen kämpfen. Das erzählt auch Marlene. "Hochgerechnet komme ich derzeit auf eine Stunde Freizeit pro Tag", erklärt sie. "Das funktioniert einfach nicht. Ich bin seit einer Woche krank, weil mein Körper überhaupt nicht mit dem Stress umgehen kann."
Wenn Marlene krank ist, muss sie trotz allem eine Unterrichtsvorbereitung für vertretende Kolleg:innen zur Verfügung stellen. Ivana verspürt einen enormen Rechtfertigungsdruck, nur möglichst schnell wieder gesund zu werden. "Das wird einem immer vorgeworfen", erklärt sie. Dieser Zustand sei in vielen Schulen Alltag – und verschärft das Erschöpfungsgefühl weiter.
Im Stich gelassen
Betroffene wie Marlene oder Ivana erhalten dabei nur unzureichend Hilfe. "Sie fühlen sich allein gelassen", kritisiert auch der Gewerkschafter Krebs. "Welche Unterstützung hat eine Lehrperson?" Laut Krebs keine. Dieses Gefühl ziehe sich durch alle Altersgruppen. Dass es schon bei den ganz jungen Lehrpersonen beginne, sei "doppelt erschreckend".
Dabei befindet sich die Institution Schule in einem Teufelskreis. Wenn es an Lehrer:innen fehlt, muss das bestehende Personal immer neue Aufgaben übernehmen – und brennt selbst schneller aus.
Grundsätzlicher Fachkräftemangel
Das Problem Lehrer:innen-Mangel müsse man in den grundsätzlich "hohen Fachkräftebedarf einordnen", der viele Bereiche betreffe, erklärt Elke Larcher, Bildungsexpertin von der Arbeiterkammer Wien. Soziale und pädagogische Berufe seien davon in einem großen Ausmaß betroffen.
"Vor dem Hintergrund, dass Fachkräfte sich ein Stück weit aussuchen können, wo sie arbeiten, geht es natürlich um die Frage, wo sie die besten Arbeits- und Rahmenbedingungen vorfinden", erklärt Larcher. Gerade da gäbe es in der Schule einen "großen Mangel". Viele Lehrpersonen würden mit einem Ideal in den Beruf starten, das sich im derzeitigen System nicht erfüllen lasse. So sieht das auch Ivana: "Du bist einfach nur ein Volltrottel in einem großen System."
Zusammenfassung
- Immer mehr Lehrer:innen verlassen frühzeitig den Schuldienst.
- Sie leiden häufig an Depressionen oder Burn-Out.
- Schafft sich Österreich den Mangel an Lehrpersonen selbst?