Experte: "Stunde der Nationalstaaten" schlägt
Nach Ansicht des Europaexperten Stefan Lehne schwächt die Corona-Krise die EU "erheblich", während die "Stunde der Nationalstaaten" schlägt. "Rechtlich, weil bei ihnen die Kompetenzen für die Gesundheitspolitik und die Wirtschaftspolitik liegen und psychologisch, weil in der Krise das nationale Hemd näher ist als der europäische Rock", erklärte Lehne gegenüber der APA.
Die Bürger erwarten sich laut dem für den Brüsseler Thinktank der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden (CEIP) tätigen Wissenschafter von ihren Regierungschefs "Führung und Zuspruch", kaum jedoch vom europäischen Personal. Die EU trage zum Krisenmanagement vor allem dadurch bei, dass sie die Regeln für staatliche Beihilfen und Budgetdisziplin suspendiere und so den Rettungsaktionen der Mitgliedstaaten "Spielraum" einräume. "Die Ausnahme ist - wie auch in der Finanzkrise - die Europäische Zentralbank, die durch massive Anleihenankäufe das Überleben des Finanzsystems absichert", so der Experte.
Die Krise habe das Schengen-Abkommen bereits "ausgehebelt" und drohe auch den Binnenmarkt "schwer zu beschädigen", stellt Lehne fest. Die Sicherung der grenzüberschreitenden Produktionsketten werde jedoch entscheidend sein, wenn ein weiterer wirtschaftlicher Absturz verhindert werden solle.
Das Verhalten der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten schwanke derzeit zwischen "nationalem Egoismus" - wie bei der Willkür bei Grenzschließungen und dem Exportverbot für medizinisches Material - und den ersten Hilfeleistungen für das am schwersten getroffene EU-Mitglied Italien. "Verständlich, dass im Stress der Krise jede Regierung zunächst an das eigene Land denkt, aber die wirtschaftliche und gesellschaftliche Vernetzung der EU erfordert die Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen", so der Österreicher. Hier müsse noch mehr geschehen.
Das österreichische Krisenmanagement gilt Lehne zufolge "insgesamt als vorbildlich". Die von den Skitourismuszentren ausgehende Infektionswelle habe allerdings dem österreichischen Image "erheblich geschadet".
Lehne sieht die Corona-Krise als Sondersituation an, die in einigen Monaten überwunden sein wird. "Für den wirtschaftlichen Genesungsprozess danach wird die EU eine wichtige Rolle spielen", ist der Experte überzeugt. "Vielleicht werden in den nächsten Monaten auch einige Lektionen gelernt, die Reformen der EU in Richtung größerer Solidarität und Nachhaltigkeit auf den Weg bringen, so seine Hoffnung.
Zusammenfassung
- Nach Ansicht des Europaexperten Stefan Lehne schwächt die Corona-Krise die EU "erheblich", während die "Stunde der Nationalstaaten" schlägt.
- "Rechtlich, weil bei ihnen die Kompetenzen für die Gesundheitspolitik und die Wirtschaftspolitik liegen und psychologisch, weil in der Krise das nationale Hemd näher ist als der europäische Rock", erklärte Lehne gegenüber der APA.