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Experte: Bei Angriff kann Österreich nicht neutral bleiben

Heute, 04:02 · Lesedauer 5 min

Bei einem Angriff Russlands auf Europa kann auch ein neutrales Land wie Österreich nicht unparteiisch bleiben. Darauf weist der deutsche Wirtschaftswissenschafter Guntram Wolff im Gespräch mit der APA hin. Wolff beziffert in einer kürzlich veröffentlichten Studie die notwendigen Rüstungsausgaben für Europa, um die durch den Polit-Schwenk von US-Präsident Donald Trump eventuell entfallenden US-Militärkapazitäten zu ersetzen, auf 250 Milliarden Euro jährlich.

"Man muss sich irgendwann klar machen, dass natürlich Österreich auch nicht wirklich neutral oder unparteiisch sein kann. Wenn Russland erfolgreich ist mit seiner Aggression, dann betrifft das ja auch uns. Wenn es zum Beispiel die gesamte Ukraine erobern würde, nehmen wir das mal an, dann ist es ja nicht so, dass das Österreich nicht betreffen würde", gibt der Professor an der Freien Universität Brüssel zu bedenken.

Die künftige Bundesregierung aus ÖVP, SPÖ und NEOS hat in ihrem am Donnerstag veröffentlichten Regierungsprogramm erneut das Bekenntnis zur österreichischen Neutralität bekräftigt. Zentral dafür seien ein "aktiver Betrag zur Schaffung von Sicherheit und Frieden", das Engagement für Abrüstung sowie die Fortführung der Teilnahme an Friedensmissionen, heißt es in dem Papier. Wesentlicher Bezugsrahmen sei "die Zusammenarbeit und Solidarität innerhalb der EU".

Durch die derzeitige Politik von US-Präsident Trump, aber auch unabhängig davon, stehe Europa derzeit vor der Herausforderung, sich Gedanken über eine zukünftige Verteidigung zu machen, die auch ohne US-Unterstützung auskommt. Wolff erinnert daran, dass der Kontinent, schon was klassische konventionelle Rüstungsgüter wie Panzer oder Artillerie betrifft, im Augenblick relativ schwach dasteht. Zudem müsse Europa die Kampfkraft von 300.000 US-Soldaten einschließlich schwerer Ausrüstung ersetzen, schreibt Wolff in seiner Studie für das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel), die er kürzlich gemeinsam mit Alexandr Burilkov vom Brüsseler Thinktank Bruegel veröffentlicht hat.

Ein wichtiger weiterer Aspekt seien zudem die modernen Hilfsmittel der Verteidigung wie Satellitendienste, Nachrichtendienste, Software, IT-Kapazitäten, aber auch Raketen und Drohnen. Vor allem im Digitalbereich brauche es "sehr große Anstrengungen", da sei Europa derzeit äußerst schwach aufgestellt. "Dieser zweite Korb, den ich jetzt gerade erwähnt habe, ist ein Korb, den man natürlich auf europäischer Ebene bestellen könnte und auch gemeinsam organisieren könnte. Dadurch würde man sehr, sehr viele Effizienzgewinne hinbekommen."

Ob diese Rüstungszusammenarbeit in einer Kooperation der europäischen NATO-Staaten, im Rahmen der EU oder in einem ganz anderen Rahmen erfolgt, sei noch offen und vor allem eine politische Entscheidung, so der Experte. "Mein Wunsch wäre natürlich, dass man möglichst viele dabei hat. Das heißt idealerweise die 27 EU-Länder, idealerweise auch Norwegen, idealerweise auch Großbritannien. Das wäre hilfreich und sinnvoll. Aber es kann durchaus sein, dass das politisch nicht möglich sein wird. Und dann wird man in kleineren Koalitionen agieren."

Europäische Rüstungsindustrie hat großes Potenzial

In der Rüstungsindustrie Europas selbst sieht der Experte indes durchaus großes Potenzial, auch im Vergleich zu den USA. "Es ist bei weitem nicht so, dass die USA große militärische Produktionskapazitäten hätten. Im Gegenteil, im industriellen Bereich sind die USA eher schwächer als Europa", so der Wissenschafter. "Es gibt (in Europa) genug Kapazitäten im industriellen Bereich, um relativ schnell die Produktionsmengen hochzufahren. Das ist eher eine Frage des politischen Willens und der Ressourcen, die die Politik bereit ist, in diese Richtung auszugeben."

Trotz der zunehmenden Schwierigkeiten der Ukraine an der Front verweist Wolff darauf, dass Russland nach wie vor kein Überrennen des Nachbarlandes gelungen ist. Dadurch binde die Ukraine weiterhin große Mengen an russischen Truppen: "Insofern erfüllen sie nicht nur für die ukrainische Sicherheit eine wichtige Funktion, sondern tatsächlich für die Sicherheit ganz Europas." In Fall eines Waffenstillstands dürfe die Ukraine auf keinen Fall abrüsten, so Wolff, sonst wäre das Risiko zu groß, dass Russlands Präsident Wladimir Putin bald wieder einmarschiert.

Zum Thema Atomwaffen und nukleare Abschreckung meinte der Experte, dass der nukleare Schutzschirm der USA über Europa mittlerweile "brüchig und zweifelhaft" geworden sei. Dies sei auch aufgrund des politischen Willens von Trump geschehen, aber nicht ausschließlich. Vielmehr gehe es schon seit längerem um die prinzipielle Entscheidung, wie weit ein US-Präsident gewillt sei, im Fall eines Angriffs auf ein europäisches Land das Risiko eines Atomkrieges in den USA in Kauf zu nehmen.

Was die nuklearen Kapazitäten betrifft, so müsse sich daher auch Europa darauf einstellen, für sich selbst verantwortlich zu sein. "Klar wird sein, (die europäischen Atommächte) Frankreich und Großbritannien werden eine größere Rolle spielen müssen. Und wahrscheinlich werden wir einiges an Geld in die Hand nehmen müssen, um tatsächlich die nukleare Abschreckung glaubwürdiger zu machen."

( S E R V I C E: Alexandr Burilkov, Guntram Wolff: Europa ohne die USA verteidigen: Eine erste Analyse, was gebraucht wird. Kiel Policy Brief Nr. 183, Februar 2025. herausgegeben vom Kiel Institut für Weltwirtschaft. Deutsche Version (PDF): https://go.apa.at/E8jcTpIT Englische Originalversion (PDF): https://go.apa.at/Z8PP2Bv1 )

( Das Gespräch führte Petra Edlbacher/APA. )

Zusammenfassung
  • Der Wirtschaftswissenschafter Guntram Wolff sagt, dass Österreich bei einem russischen Angriff auf Europa nicht neutral bleiben könnte.
  • Wolff beziffert die notwendigen Rüstungsausgaben Europas auf 250 Milliarden Euro jährlich, um die US-Militärkapazitäten zu ersetzen.
  • Österreichs neue Regierung bekräftigt die Neutralität, betont aber die Zusammenarbeit und Solidarität innerhalb der EU.
  • Europa muss seine Verteidigung ohne US-Unterstützung organisieren, wobei moderne Verteidigungsmittel wie IT und Satelliten entscheidend sind.
  • Die europäische Rüstungsindustrie hat Potenzial, doch die nukleare Abschreckung ist durch die US-Politik fragil geworden.