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EU-Ratspräsident: EU-Einigkeit bei Migration größer geworden

In der Europäischen Union (EU) gebe es heute eine größere Einigkeit beim Thema Migration als vor ein paar Jahren. Das sagte der scheidende EU-Ratspräsident Charles Michel in einem Interview mit den Nachrichtenagenturen des European Newsroom, an dem die APA teilnimmt. 2016 hätten die EU-Staats- und Regierungschefs bei Debatten zur Migration noch "Beleidigungen" ausgetauscht; heute sei das anders. Für Michel stellt die Migration vor allem eine politische Herausforderung dar.

Die größten Herausforderungen für die Zukunft der EU sieht der frühere belgische Premierminister bei der wirtschaftlichen Entwicklung und beim Ausbau der europäischen Verteidigungskapazitäten. Aber auch Migration sei eine "kollektive Herausforderung", so Michel. Allerdings habe dies nur zum Teil mit den tatsächlichen Ankunftszahlen von Migranten in Europa zu tun, die volatil seien und regional unterschiedlich. Vielmehr werde das Thema von "verschiedenen politischen Gruppen und Parteien" missbraucht, um das europäische Projekt zu untergraben.

"Wenn wir (die EU-Staats- und Regierungschefs; Anm.) nicht in der Position sind, diese politische Herausforderung zu managen, warum sollten uns die Menschen dann vertrauen bei den anderen Herausforderungen", meinte der Belgier, der in den vergangenen fünf Jahren den Treffen der EU-Regierungsspitzen vorsaß.

Vor acht Jahren sei das Vertrauen unter den EU-Spitzen bei diesem Thema zerstört gewesen. "Es war ein totales Chaos und es brauchte einige Jahre, um das Vertrauen wieder herzustellen." Es sei mittlerweile gelungen, sich auf ein EU-Migrations- und Asylpaket zu einigen, dass in den kommenden Monaten umgesetzt werde. Michel räumte ein, dass nicht alle Länder mit dem Beschluss, der mittels qualifizierter Mehrheit getroffen wurde, zufrieden seien. Diese Länder würden "einige Elemente" des Pakets nicht mögen.

"Ich erinnere mich auch, dass es vor einigen Jahren noch sehr schwer war, überhaupt über die Idee zu diskutieren, dass wir legale Wege (in die EU; Anm.) unterstützen", so Michel. "Jetzt ist das eine geteilte Ansicht unter allen Kollegen, dass wir auf der einen Seite sehr streng und hart sein müssen im Kampf gegen die illegale Migration, gegen die Schmuggler, aber auf der anderen Seite auch neue Möglichkeiten für legale Migration eröffnen müssen." Die Herausforderungen durch den demografischen Wandel, also die Alterung der Bevölkerung in der EU, könne nicht getrennt vom Migrationsthema behandelt werden.

Mit Blick auf Ideen, die EU-Asylprozedur zum Teil in Drittstaaten zu verlagern, meinte der EU-Ratspräsident, dass diese nicht neu seien. "Wir sollten nicht Angst haben, uns konkrete Wege anzuschauen, wie wir effektiver beim Management von Migration sein können, und auf der anderen Seite sicherstellen, dass dies mit internationalem Recht in Einklang ist." Es gehe hier nicht um ein "schwarz oder weiß" - also ein dafür oder dagegen - sondern um die konkreten Modalitäten solcher Vorhaben. Das gelte auch mit Blick auf die italienischen Flüchtlingslager in Albanien.

Weiters sei es wichtig, die Fluchtursachen im Blick zu haben. Hierzu würden Konflikte wie jener im Nahen Osten oder im Sudan gehören. Deshalb müsse die EU sich anstrengen, um eine Waffenruhe im Gazastreifen und im Libanon herbeizuführen. "Ich fürchte mich davor, was wir in Gaza entdecken werden." Was dort passiere, sei schrecklich. Die EU müsse hier entschiedener handeln, wenn sie es mit ihren Werten ehrlich meine. Ansonsten werde es auch hier zu stärkeren Flüchtlingsströmen kommen, was wiederum die Spaltung innerhalb der europäischen Gesellschaft befeuern könne.

Für die Autonomie der EU in Sicherheitsfragen ist laut Michel in den vergangenen fünf Jahren mehr Fortschritt erzielt worden, als in den 30 Jahren davor. Die amerikanischen Präsidenten Donald Trump und Barack Obama hätten recht gehabt, die europäischen NATO-Staaten aufzufordern, mehr für Verteidigung auszugeben - aber sie wären falsch gelegen, wenn sie glaubten, dass dies ohne den Aufbau einer europäischen Waffenindustrie passieren könne. Aktuell würden europäische Verteidigungsausbauen zu einem Großteil in die US-Industrie fließen. In Zukunft solle der Anteil der Aufträge an europäische Rüstungsfirmen steigen.

Michel brach auch eine Lanze für das Einstimmigkeitsprinzip bei wichtigen EU-Entscheidungen. Gerade im Hinblick auf die geplante Erweiterung der EU auf Länder des Westbalkans, Moldau oder die Ukraine wurde dieses Prinzip in Frage gestellt. Gehe man aber zu schnell davon ab, bestehe ein Risiko für die europäische Einheit, weil man sich nicht mehr genügend Mühe gebe, gemeinsame Positionen zu finden. Gleichzeitig bestehe das Risiko, dass das Vetorecht von einzelnen Mitgliedstaaten missbraucht werde. Michel zeigte sich aber zuversichtlich, dass es möglich sein wird, "schlaue Wege" in "der Mitte" zu finden.

ribbon Zusammenfassung
  • Charles Michel, scheidender EU-Ratspräsident, betont eine größere Einigkeit in der EU bei der Migrationsfrage im Vergleich zu 2016.
  • Ein EU-Migrations- und Asylpaket wurde beschlossen, obwohl einige Länder mit dem per qualifizierter Mehrheit gefassten Beschluss unzufrieden sind.
  • Michel unterstreicht die Notwendigkeit, legale Migrationswege zu schaffen und gleichzeitig gegen illegale Migration vorzugehen.
  • Er sieht die Bekämpfung von Fluchtursachen, wie Konflikten im Nahen Osten, als essenziell für die EU.
  • Michel hebt Fortschritte in der europäischen Verteidigung hervor und kritisiert die Abhängigkeit von der US-Rüstungsindustrie.