Bulgaren kämpfen gegen Korruption und Oligarchie
"Mafia raus", "Wir wollen in einem normalen Staat leben" oder "Wir machen weiter bis zum Rücktritt" steht auf den Schildern der Kundgebungen in Sofia. Die konservativ-nationalistische Regierung unter Ministerpräsident Boiko Borissow ficht das jedoch nicht an. Sie will wegen der Coronakrise bis zur Wahl im März 2021 im Amt bleiben. Ein von Staatschef Rumen Radew eingesetztes Interimskabinett müsse ohne Parlament regieren. Die Demonstranten lassen dieses Argument nicht gelten. Sie fordern seit Wochen Neuwahlen.
"Es ist Zeit, dass die europäischen Spitzenpolitiker ihre Augen öffnen", forderte ein Aktivist schon Ende August vor der Vertretung der EU-Kommission in Sofia. Die vornehmlich jungen Protestierenden in dem Balkanland beklagen eine "Fassadendemokratie", hinter der sich Korruption und Missbrauch von EU-Geld verbergen.
Die Menschen, die seit dem 9. Juli auf die Straße gehen, gehören diversen politischen Gruppierungen an. Ihre Anzahl ist inzwischen von mehreren Tausend auf Hunderte geschrumpft, sie versammeln sich aber noch immer jeden Abend für neue Aktionen - nicht nur in Sofia. Sie alle fordern neben Neuwahlen auch den Rücktritt von Chefankläger Iwan Geschew. Der Mann, der oft eine Schirmmütze trägt, verschließe die Augen vor korrupten Machenschaften im Regierungslager und verfolge vor allem politische Gegner. Der Generalstaatsanwalt werde kaum kontrolliert.
In Brüssel gibt es ähnliche Bedenken. Vergangene Woche bescheinigte die EU-Kommission dem bulgarischen Rechtsstaat in einem umfassenden Bericht gravierende Mängel - darunter politische Einflussnahme auf die Justiz und umstrittene Absetzungen von Richtern in bestimmten Strafprozessen. Das Vertrauen in einen effektiven Kampf gegen die Korruption sei sehr gering, die Besitzverhältnisse von Medien gäben Grund zur Sorge.
Es ist nicht das erste Mal, dass Bulgarien wegen Korruption in der Kritik steht: Wegen korrupter Machenschaften wurden etwa 2008 rund 500 Millionen Euro Fördergelder aus Brüssel gestoppt. Damals hatte in Sofia ein von Sozialisten geführtes Koalitionskabinett regiert.
Nun schlägt auch das Europaparlament Alarm in einer Resolution, über die die Abgeordneten am Donnerstag abstimmen wollen. Darin bedauert es etwa zutiefst, dass die Entwicklungen in Bulgarien zu einer erheblichen Verschlechterung bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten geführt hätten - auch mit Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz, die Gewaltenteilung, die Korruptionsbekämpfung und die Medienfreiheit. Das Parlament bringe seine "Solidarität mit dem bulgarischen Volk hinsichtlich dessen legitimen Forderungen und Bestrebungen nach Gerechtigkeit, Transparenz, Rechenschaftspflicht und Demokratie" zum Ausdruck.
"Mit der Resolution stehen wir an der Seite der Zivilgesellschaft Bulgariens", sagte die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley der Deutschen Presse-Agentur. "Seit Monaten gehen die Menschen in Bulgarien zu Recht auf die Straße." Die Europäische Volkspartei, der auch CDU und CSU angehören, habe "viel zu lange aus falsch verstandener Parteifreundschaft mit der bulgarischen Regierung weggeschaut, weshalb die europäische Ebene bisher nicht entschieden genug auf die Entwicklungen in Bulgarien reagiert hat".
Tatsächlich ist der Unionsblick auf Bulgarien ein anderer: "Bulgarien ist ein Land, das auf dem Weg ist, und es hat noch einen langen Weg zu gehen um die Standards, die wir uns alle gesetzt haben in Europa, auch umzusetzen", sagte EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) am Montag im EU-Parlament. Es sei nicht alles perfekt, aber Bulgarien dürfe "auch stolz sein auf das, was erreicht worden ist". Der Bericht der EU-Kommission sei fair, doch es gebe in Bulgarien eine funktionierende Demokratie und Meinungsfreiheit. Zudem führe Ministerpräsident Borissow eine proeuropäische Regierung.
Dies ist wohl einer der größten Unterschiede zu Polen oder Ungarn. Während dortige Regierungsvertreter sich immer wieder abfällig über Brüssel äußern, zeigt Borissow sich stets zur Kooperation bereit. Auch gibt es keine Frontalangriffe wie aus Warschau und Budapest.
Zusammenfassung
- In Bezug auf Demokratie und Rechtsstaat wächst die Liste der Sorgenkinder in der Europäischen Union.
- Die konservativ-nationalistische Regierung unter Ministerpräsident Boiko Borissow ficht das jedoch nicht an.
- Sie will wegen der Coronakrise bis zur Wahl im März 2021 im Amt bleiben.
- Damals hatte in Sofia ein von Sozialisten geführtes Koalitionskabinett regiert.
- "Seit Monaten gehen die Menschen in Bulgarien zu Recht auf die Straße."