Bosnien und die EU: "Einzige Möglichkeit" für politische Stabilität
Es ist später Nachmittag in Sarajevo. Die Sonne strahlt kräftig durch die Straßen der bosnischen Hauptstadt, begleitet vom Gesang des Muezzins, der zum muslimischen Gebet aufruft. An den Krieg, der hier vor 30 Jahren wütete, erinnern Museen, Galerien, verlassene Tunnels und Bunker, und das ein oder andere Graffiti auf den Gebäuden.
Statt in die Vergangenheit, blickt der Großteil der Bevölkerung aber eher in die Zukunft des Landes. Vor allem durch einen EU-Beitritt erhoffen sich Viele positive Veränderungen. Diesem Beitritt scheinen aber ironischerweise gerade die bosnischen Politiker:innen selbst im Weg zu stehen.
Wofür Rechtsstaatlichkeit, wenn man über dem Gesetz steht?
Dem Vorwurf, dass die Politiker:innen des Landes sich gegenseitig blockieren und damit auch einen EU-Beitritt erschweren, stimmt auch Politik-Analyst Adnan Huskić im Gespräch mit PULS 24 zu. Denn was den EU-Beitritt angeht, scheint sich die politische Elite in Bosnien und Herzegowina in zwei Gruppen zu spalten. So gebe es Kräfte im Land, die "offensichtlich überhaupt nicht daran interessiert sind, sich der EU anzunähern", erklärt Huskić.
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Diese Menschen würden eine Annäherung an die EU und die damit einhergehende Veränderung des Staates und der Gesellschaft als potenzielle Gefahr für das sehen, was es jetzt gibt. "Und das ist unglaublich weit verbreitete Korruption und Vetternwirtschaft. All das, was es den Leuten an der Macht ermöglicht, sehr gut einzunehmen und auszunützen, dass sie an der Macht sind", erklärt Huskić.
"Warum sollten sie daran interessiert sein, dass die Dinge transparenter, klarer, normaler und einfacher werden? Warum sollte es einem von ihnen passen, Rechtsstaatlichkeit zu etablieren, wenn sie unter diesen Umständen derzeit über dem Gesetz stehen?"
EU: "Einzige Möglichkeit" für politische Stabilität
Und dann gebe es auch diejenigen, die die EU als "einzige Möglichkeit sehen, damit sich diese Gesellschaft und diese gesamte Region politisch stabilisiert".
Genau das spiegelt auch eine von der Direktion für Europäische Integration (DEI), einem Gremium des bosnischen Ministerrats, im Juni 2024 durchgeführte Umfrage wieder. Bei dieser Befragung stimmten 71, 2 Prozent der 1.200 Befragten für einen EU-Beitritt.
Als die größten Gründe für ihre Unterstützung nannten die Befragten den freien Personen-, Waren- und Kapitalverkehr (35,1 Prozent), die Gewährleistung von dauerhaftem Frieden und politischer Stabilität (32,3 Prozent) und die Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften (19,9 Prozent).
Warum sollten sie daran interessiert sein, dass die Dinge transparenter, klarer, normaler und einfacher werden? Warum sollte es einem von ihnen passen, Rechtsstaatlichkeit zu etablieren, wenn sie unter diesen Umständen derzeit über dem Gesetz stehen?
Hoffnung auf Normalität
Und das bestätigt sich vor Ort: "Ich denke, dass sich das System und die Situation durch einen EU-Beitritt verbessern würden“, erklärt eine Studentin vor der Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Sarajevo gegenüber PULS 24. Einer ihrer Studienkollegen stimmt dem zu, auch er würde sich einen EU-Beitritt sehr wünschen. Man hoffe darauf, sich einem Bündnis anzuschießen, das "etwas normaler ist", meint eine weitere Frau.
Der Eindruck: In Bosnien und Herzegowina hoffen Viele auf einen raschen Beitritt, keiner glaubt jedoch wirklich an diesen. Ursache dafür seien die "politischen Verhältnisse in diesem Land", meint der Student. "Leider haben wir viele Feinde darin. Aber ich hoffe, dass sie ihre Ansätze ändern werden, denn es wird uns allen besser gehen, wenn wir der EU beitreten", ist er überzeugt.
"Da ich die politische Situation und die fehlende Einigkeit der politischen Verantwortlichen in Bosnien und Herzegowina kenne, bin ich skeptisch, dass unsere politischen Vertreter einen gemeinsamen Nenner finden und alles Notwendige tun werden, damit Bosnien und Herzegowina der EU beitritt", bedauert auch Sarina Bakić, Professorin an der politischen Fakultät im Bereich Soziologie.
Zurückhaltung, Machtlosigkeit, Schwarzseherei
Es sei "paradox", meint auch Huskić, dass "die EU für uns als Bürger der einzige Akteur geblieben ist, der die politischen Eliten dazu bewegt, Gesetze zu verabschieden, die so konstruiert sind, dass es uns als Bürgern besser geht. Dass Regeln erschaffen werden, die in entwickelteren Ländern etabliert sind".
Eine Sache bedrücke den Politik-Analyst besonders: In der Bevölkerung Bosnien und Herzegowinas ortet er Zurückhaltung, Machtlosigkeit und Defätismus, also einen Zustand der Mutlosigkeit und Schwarzseherei. "Wir akzeptieren die Zustände so wie sie sind".
Damit sich Bosnien und Herzegowina überhaupt der EU annähert, brauche es laut Huskić nicht nur eine andere Art der Politikführung im Land - auch die Bevölkerung müsse sich ernsthafter mit Politik beschäftigen. Es brauche eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft. "In diesem Sinne ist die EU wichtig", meint der Politik-Analyst.
Situation in der EU "nicht rosig"
Wie lange es noch dauern könnte, bis Bosnien und Herzegowina tatsächlich EU-Mitglied ist, darüber möchte der Politik-Analyst "unter diesen Voraussetzungen" keine Einschätzung abgeben. Denn aufgrund von Meinungsverschiedenheiten der bosnischen Politiker:innen habe man "intern zu kämpfen".
Es sei zudem wichtig, darüber zu reden, wie man das aktuelle Zugangsrahmenwerk der EU an die Situationen der Balkan-Länder anpassen kann. Denn "die Situation in den Ländern wird nicht besser, die Situation wird schlechter", meint Huskić, und wirft dabei einen Blick nach Serbien, wo er einen "ernsthaften demokratischen Rückgang" ortet und nach Montenegro, das in eine politische Krise gefallen sei.
Aber auch die Situation in der EU sei "nicht rosig", meint Huskić. "Nicht nur, dass nicht der Wunsch besteht, darüber zu reden, wie man den Beitrittsprozess an die Situation der Länder anpassen kann", so der Politik-Analyst, viele Mitgliedstaaten würden sich eher auf die Durchsetzung von Reformen im eigenen Land konzentrieren, als auf die EU.
"Wenn Bosnien nicht in die EU kommt, gehen sie in die EU"
Zudem hätten viele Dinge die Geschichte rund um den Beitrittsprozess Bosnien und Herzegowinas verlangsamt: die EU-Wahl, die Bestimmung der neuen EU-Kommissar:innen, ein neuer EU-Sonderbeauftragter für Bosnien und Herzegowina wurde ernannt, die Kommunalwahlen in Bosnien und Herzegowina im Oktober 2024.
Der nächste Schritt werde laut Huskić sein, genauer zu definieren, was die EU von Bosnien und Herzegowina erwartet. Darauf folgen könnte der Beginn der sogenannten Beitrittskonferenz, womit Bosniens EU-Beitrittsprozess offiziell in Gang gesetzt werden würde. Wann es jedoch dazu kommt, sei schwer einzuschätzen.
Und das würden auch viele Bosnier:innen wissen. Denn die Mehrheit der Menschen, die einen EU-Beitritt unterstützen, würden auch wissen, "dass Bosnien in baldiger Zeit nicht der EU beitreten wird". "Und dann entscheiden sie, dass sie in die EU gehen", meint der Politik-Analyst in Anspielung an die massenhafte Auswanderung, mit der das Land konfrontiert ist. Nach Einschätzungen der Union für nachhaltige Rückkehr und Flüchtlinge (UZOPI) haben von 2013 bis 2023 über 600.000 Menschen Bosnien und Herzegowina verlassen.
"Wenn Bosnien nicht in die EU kommt, dann gehen sie in die EU", so Huskić.
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Ermöglicht wurde die Reise nach Bosnien und Herzegowina durch das Projekt "Eurotours" des Bundeskanzleramts. Die Kosten für Unterkunft und Anreise wurden übernommen. Im Blog des Projekts gibt es alle Berichte aus den EU- und Balkanländern zu lesen.
Zusammenfassung
- Als eines von mehreren Balkan-Ländern hofft auch Bosnien und Herzegowina auf einen EU-Beitritt.
- Die Mehrheit der Bevölkerung begrüßt eine EU-Mitgliedschaft. Das größte Motiv dafür?
- Für viele ist die EU die einzige Hoffnung für politische Stabilität und die Einhaltung von Gesetzen im eigenen Land geblieben.
- Eine Reportage aus Sarajevo.