Berlin einigte sich auf Eckpunkte der Kindergrundsicherung
Bis zu 5,6 Millionen armutsbedrohte Familien und ihre Kinder bekämen die Leistungen schneller, einfacher und direkter. Darunter seien Millionen, die vorher nicht gewusst hätten, dass diese ihnen zustünden, sagte Paus weiter. Das Ergebnis sei die umfassendste Sozialreform seit vielen Jahren.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) geht davon aus, dass der Bund nach der Kindergrundsicherung mehrere Jahre keine weitere große Sozialreform mehr finanzieren kann. Die Kindergrundsicherung werde 2025 rund 400 Millionen Euro mehr kosten als bisher geplant. "Das erhöht den Handlungsbedarf, den wir im Haushalt 2025 haben werden, weiter", sagte er. "Weshalb ich die Prognose wage, dass es sich bei der Kindergrundsicherung mit Blick auf die nächsten Jahre um die letzte größere Sozialreform handelt, die noch in den Haushaltsrahmen des Bundes passt."
Grüne und FDP hatten monatelang heftig über die Finanzierung gestritten und sich in der Nacht zum Montag schließlich geeinigt. Familienministerin Paus wollte zuerst 12 Milliarden Euro pro Jahr für das Vorhaben. Finanzminister Lindner nannte als "Merkposten" eine Summe von nur 2 Milliarden Euro. Linder sprach nach der Einigung davon, dass es keine generellen Leistungsverbesserungen für Eltern geben werde, die nicht erwerbstätig seien. Der beste Weg, Armut zu überwinden, sei Arbeit.
Nach der Koalitionseinigung im Streit um die geplante Kindergrundsicherung soll nun auch das vorerst aufgehaltene Wachstumschancengesetz auf den Weg kommen. "Von mir gibt's keine Einwände", sagte Paus. Sie hatte das von Lindner geplante Gesetz zu Steuererleichterungen für die Wirtschaft Mitte August wegen der zunächst ungeklärten Finanzierung der Kindergrundsicherung blockiert. Lindner machte deutlich, durch die "kleine Retardierung" seien im Gesetzentwurf noch Verbesserungen bei der Wirkung für den Mittelstand eingearbeitet worden. Das Gesetz soll nun bei einer Kabinettssitzung im Rahmen der Regierungsklausur in Meseberg an diesem Mittwoch auf den Weg gebracht werden. Es sieht rund 50 Steuererleichterungen für Firmen vor.
Am Sonntagabend waren Kanzler Olaf Scholz (SPD), Paus und Lindner zu Gesprächen im Kanzleramt zusammengekommen. Gegen Mitternacht wurde bekannt, dass man sich bei der Kindergrundsicherung zusammengerauft hat. Lindner hatte zuvor im ZDF-"Sommerinterview" gesagt, dass er mit einer schnellen Einigung auf Eckpunkte rechne. Danach würden Verbände und Länder beteiligt, und erst dann werde es einen fertigen Gesetzentwurf geben, der an den Bundestag gehe.
Auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich wies darauf hin, dass noch Änderungen im parlamentarischen Verfahren möglich seien. Parlament und auch SPD-Fraktion würden das ein oder andere am Gesetzentwurf möglicherweise "präzisieren", sagte Mützenich am Montag im ARD-"Morgenmagazin". Er zeigte sich zuversichtlich, dass der Bundestag von der Regierung bald einen "belastbaren Gesetzentwurf" bekommt.
In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP vereinbart, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Bisherige Leistungen wie das Kindergeld, Leistungen aus dem Bürgergeld für Kinder oder der Kinderzuschlag sollen darin gebündelt werden. Durch mehr Übersichtlichkeit und mithilfe einer zentralen Plattform sollen auch viele Familien erreicht werden, die bisher wegen Unkenntnis oder bürokratischer Hürden ihnen zustehende Gelder nicht abrufen.
Bundeskanzler Scholz begrüßte die Verständigung, wie der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner sagte. Scholz sei sich sicher gewesen, bis Ende August zu einer Einigung zu kommen, und das sei so gelungen.
Die stellvertretende Klubvorsitzende der SPÖ, Eva-Maria Holzleitner, lobte die Einigung auf die Kindergrundsicherung im Nachbarland: "Das ist ein Meilenstein für Deutschland. Einmal mehr zeigt sich die klare sozialdemokratische Handschrift in unserem Nachbarland, das über Generationen hinweg von diesem großen Wurf in der Kinder- und Familienpolitik profitieren wird." Das deutsche Modell enthält einerseits finanzielle Unterstützung aber auch eine bürokratische Vereinfachung von Familienleistungen.
Auch die österreichische Volkshilfe begrüßte grundsätzlich den Durchbruch. "Wir gratulieren der Zivilgesellschaft, den Verbänden und Parteien in Deutschland, die sich seit Jahren für eine Kindergrundsicherung einsetzten und für ein Ende der Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Welt kämpfen", so reagierte Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich, in einer Aussendung vom Montag. Doch gab sich die Volkshilfe abwartend bezüglich der tatsächlichen Effektivität der aktuellen Pläne für die Beseitigung von Kinderarmut. "Etwas skeptisch bin ich ob der derzeit genannten Höhe der Leistungen. Von einer Kindergrundsicherung kann nur gesprochen werden, wenn sie die tatsächlichen Kinderkosten abdeckt", so Fenninger.
Deutsche Kinderschutzorganisationen sind offen unzufrieden mit der Einigung. "Das, was die Bundesregierung vorschlägt, ist enttäuschend. Das ist keine Kindergrundsicherung", kommentierte die Präsidentin des Kinderschutzbundes, Sabine Andresen. Auch das Deutsche Kinderhilfswerk befand, dass die Einigung hinter den Erwartungen zurückbleibe. Zwar gehe es endlich einen Schritt vorwärts mit der Einigung, sagte der Präsident der Organisation, Thomas Krüger. "Die Kindergrundsicherung ist aber nach jetzigem Planungsstand nicht der erhoffte große Wurf, der die Kinderarmut in Deutschland umfassend und nachhaltig beseitigt", urteilte Krüger.
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge äußerte sich "entsetzt" über die Einigung der Ampel-Koalition auf Eckpunkte zur Kindergrundsicherung. Übrig geblieben sei eine "Schrumpfversion", kritisierte Butterwegge am Montag in Köln. "Wenn die Kindergrundsicherung bloß ein paar kindbezogene Leistungen des Staates zusammenführt, die bisher separat zu beantragen sind, sich teilweise überschneiden und einzeln ausgezahlt werden, bringt die Reform keine finanzielle Verbesserung für das Gros der armen Familien." Die Ampel-Koalition stecke 100 Milliarden Euro in die Rüstung, und zahle einem US-Konzern zehn Milliarden Euro für den Bau einer Chip-Fabrik, aber für arme Familien habe sie gerade einmal 2,4 Milliarden Euro übrig. Dies sei "ein riesiger Skandal", so der 72 Jahre alte emeritierte Hochschullehrer.
Familienministerin Paus gestand ein, dass sie sich ursprünglich mehr erhofft hatte. Es sei kein Geheimnis, dass sie im Einklang mit sehr vielen Wissenschaftlern und Verbänden "einen noch größeren Schritt im Kampf gegen Kinderarmut für notwendig erachte", sagte sie. "Aber mit dem heutigen Tag wird uns der Paradigmenwechsel im Kampf gegen Kinderarmut gelingen."
Zusammenfassung
- Die deutsche Ampelkoalition hat sich nach monatelangem Streit auf die Kindergrundsicherung geeinigt.
- Zum Teil seien es "wirklich sehr harte Verhandlungen" gewesen, sagte Familienministerin Lisa Paus (Grüne) bei der Vorstellung der Ergebnisse am Montag in Berlin.
- Laut Paus werden für die Einführung der Kindergrundsicherung im Jahr 2025 zunächst 2,4 Milliarden Euro Mehrkosten veranschlagt.