"Wiener Prozesse" der Festwochen starteten mit Corona-Fokus
Nach Stationen in Russland, in der Schweiz und und im Kongo ist Milo Raus Gerichtsformat 2024 auch in Österreich angekommen. Minimalistisch inszeniert galt und gilt es dabei jeweils, für den lokalen Kontext brisante Fälle zu debattieren und "Geschworene" als Volksvertreterinnen und Volksvertreter ein Urteil über das Handeln der Mächtigen abgeben zu lassen.
Die "Wiener Prozesse" versuchten mehr als ein bloßes Gerichtsverfahren zu sein, sagte Rau zu Beginn der Auftaktverhandlung. Sie seien eine Debatte über Österreich, über Verwerfungen und Konfliktzonen in Politik, Gesellschaft und Kultur. Hier würden Positionen aufeinandertreffen, die einander normalerweise nicht zuhörten. "Alles was heute und in den kommenden Wochen hier in einer 60-stündigen Mega-Performance geschehen wird, ist nicht anderes als ein Vorwand für eine Debatte darüber, wer wir sind", erklärte er und erntete mit seiner kurzen Rede Applaus. Die vorsitzende "Richterin" Irmgard Griss ermahnte dafür das Publikum: "In einer Gerichtsverhandlung ist es besser, wenn nicht applaudiert wird", sagte Griss, selbst ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und Ex-Abgeordnete der NEOS.
Zwei anschließende weitere Eröffnungsreden hatten vom Format freilich auch wenig mit einer üblichen Gerichtsverhandlung zu tun. So referierte der Soziologe Alexander Bogner Ergebnisse seiner im Auftrag der Bundesregierung erstellten Studie zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen, verwies aber gleichzeitig auch auf die politische Relevanz der Pandemie: "Die Rhetorik der Alternativlosigkeit eröffnete der rechtspopulistischen Opposition die Gelegenheit, sich als einzige Alternative zu inszenieren. Sie konnte sich als Alternative für Österreich präsentieren, ohne überhaupt nur einen einzigen sinnvollen Gegenvorschlag machen zu müssen", meinte er. Eine Regierung, die ihre Entscheidungen kategorisch außer Streit stelle, verschärfe den Konflikt.
Expliziter in ihrer Regierungskritik war am Freitagabend die Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy: Sie erinnerte an eine "unsägliche Kampagne", die es damals gegen die von ihr organisierte Ringvorlesung "Corona – eine transdisziplinäre Herausforderung" gegeben habe. Die beschlossenen Einschränkungen seien damals ohne Evidenz passiert, erklärte sie. "Es ist also nicht um die Gesundheit oder zumindest nicht nur um die Gesundheit gegangen, sondern es war eine Einübung in den autoritären Staat. Angstbilder sind bewusst verbreitet worden, auch um Gehorsam und Folgsamkeit zu bewirken", sagte die Geisteswissenschafterin.
Gerichtsfeeling gab es im Anschluss bei der Vorstellung und Vereidigung von sieben Geschworenen, die das Volk der beim Festwochen-Auftakt ausgerufenen "Freien Republik Wien" repräsentieren sollen. Bereits in dieser Phase kam es zu ersten Spannungen auf der Bühne: Rechtsanwalt Michael Dohr - er verteidigt die Republik - stellte den Antrag, einen Geschworenen wegen dessen Nähe zu einem am Samstag geladenen Zeugen auszuschließen. Die Vorsitzende Griss war über dieses Begehren sichtlich nicht besonders glücklich, Alfred Noll, der Rechtsanwalt und Ex-Nationalratsabgeordneter der Liste Pilz, trat als "Ankläger" auf und widersprach Dohr.
Noll warf im folgenden Eröffnungsplädoyer der Republik Österreich wortgewaltig massive Rechtsverstöße vor und beklagte, dass vielfach keine gerechten Entschädigungen bezahlt worden seien. Explizit kritisierte er eine Corona-Verordnung des damaligen Gesundheitsministers Rudolf Anschober (Grüne) - er ist am Samstag als "Zeuge" geladen -, die im Mai 2020 vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde. 30.000 Menschen seien auf Grundlage dieser rechtswidrigen Verordnung bestraft, aber im Nachhinein nicht entschädigt worden.
Ein weiterer am Samstag zu verhandelnder Punkt der "Anklage" bezieht sich auf den unzureichenden Schutz vulnerabler Gruppen. "Angeklagt" sind auch umstrittene Auszahlungen der COVID-19 Finanzierungsagentur (COFAG) des Bundes, die zuletzt auch Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses waren und über deren Aktivitäten am Sonntag im Odeon Theater ebenso ein Urteil gefällt werden soll.
"Ich glaube, man hat in der Anklage gesehen, wie schwach sie ist. Dazu braucht man gar kein Jurist zu sein", replizierte Rechtsanwalt Dohr für die Republik Österreich. Es sei seinerzeit darum gegangen, effektiv und wirksam zu handeln. Man habe auch im Nachhinein gesehen, dass die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen im Großen und Ganzen richtig gewesen seien, da sie Menschenleben gerettet hätten.
Die Grundrechte seien nicht gleich zu bewerten, denn ohne am Leben zu sein, sei es unmöglich an einer Versammlung teilzunehmen oder der Kunstfreiheit zu frönen, erläuterte Dohr. Die Freiheit ende auch dort, wo sie eine Gefährdung für den anderen darstelle, erklärte der Rechtsanwalt, der im Anschluss von Komplexitätsforscher Peter Klimek unterstützt wurde.
Die Maßnahmen der Regierung hätten konkret darauf abgezielt zu verhindern, dass mehr als ein Drittel der 2.000 in Österreich verfügbaren Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt sein würden, sagte Klimek. Ohne Maßnahmen hätte man 100.000 Tote in Österreich zu erwarten gehabt, tatsächlich waren es 20.000. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation seien etwa 25.000 Todesfälle durch Impfung verhindert worden und in den restlichen Fällen hätten es die Maßnahmen erlaubt, Infektionen an einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem schon viele Menschen geimpft gewesen seien, erläuterte der Physiker.
(S E R V I C E - "Die Wiener Prozesse" im Rahmen der Wiener Festwochen, Odeon Theater, Taborstraße 10, 1020 Wien. Konzeption und Regie: Milo Rau/Freie Republik Wien. Weitere "Sitzungen" am 25./26. Mai, 7./8./9. sowie 14./15./16. Juni. https://www.festwochen.at/wiener-prozesse)
Zusammenfassung
- Im Wiener Odeon Theater starteten die 'Wiener Prozesse', inszeniert von Milo Rau, die sich kritisch mit der Corona-Politik der türkis-grünen Bundesregierung auseinandersetzen.
- Die Prozesse, die über drei Wochenenden laufen, simulieren Gerichtsverhandlungen, in denen die Legalität der Corona-Maßnahmen überprüft wird.
- Irmgard Griss, ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, fungiert als vorsitzende Richterin und mahnt zur Gerichtsordnung, indem sie Applaus im Saal untersagt.
- Kritik an den Corona-Maßnahmen wird laut: Es wird bemängelt, dass diese oft ohne wissenschaftliche Evidenz durchgesetzt wurden, was zu unnötigen Einschränkungen geführt habe.
- Verteidiger der Regierungsmaßnahmen argumentieren, dass diese essentiell waren, um Leben zu retten, da ohne sie bis zu 100.000 Todesfälle zu erwarten gewesen wären.