Soziologe El-Mafaalani: "Massive Veränderung" kommt
APA: Herr El-Mafaalani, angesichts Ihres Namens: Ist es rassistisch, Sie, obwohl man weiß, dass Sie im Ruhrpott geboren wurden, zu fragen, woher Ihre Familie kommt?
Aladin El-Mafaalani: Das ist ganz bestimmt nicht rassistisch. Aber es gibt bestimmte Kontexte, in denen es zumindest fragwürdig ist. Es ist ungefähr so, wie wenn man jemanden, den man noch keine fünf Minuten kennt, fragt: Wie viel verdienst Du? Das ist in Österreich, denke ich, genauso wie in Deutschland eine unangemessene Frage. Und deswegen ist auch diese Frage unangemessen, wenn sie zu früh kommt. Dann betont man etwas, was unter Umständen rassismusrelevant ist.
APA: Ich habe, hoffe ich, wenigstens einen guten Grund, mit dieser Frage zu beginnen. Ihr jüngstes Buch heißt "Wozu Rassismus?" Ein plakativer Titel. Wozu gibt es tatsächlich Rassismus?
El-Mafaalani: Es gibt Funktionen, die Rassismus innerhalb der Gesellschaft erfüllt. Deshalb bleibt er trotz Veränderungen in der Gesellschaft relativ hartnäckig erhalten. Diese Funktionen sind vielfältig, und sie ändern sich. Ich möchte mich in dem Buch nicht empören, sondern die Sinnfrage stellen. Es wird daher nicht moralisch geurteilt, sondern recht nüchtern beschrieben. Was ich spannend finde: Besonders in den Gesellschaften, in denen Rassismus sehr offen thematisiert und problematisiert wird - und ich bin mir nicht sicher, ob Österreich da schon dazugehört -, hat Rassismus bisher einen Teil des gesellschaftlichen Zusammenhalts gebildet.
APA: Ist Rassismus nicht ganz einfach ein Herrschaftsinstrument, eines, das die heutige westliche Welt mitgeschaffen hat?
El-Mafaalani: Ganz eindeutig. Er war ein staatstragendes und rechtlich verbrieftes Herrschaftsinstrument. Heute ist er strukturell. Er ist in den gesellschaftlichen Strukturen, in den Denkstrukturen, in den ökonomischen Strukturen und auch in den normativen Strukturen so verankert, dass er zwar viel geringer ausgeprägt ist als vor einigen Jahrzehnten, aber dadurch auch viel weniger greifbar.
APA: Mich hat der Optimismus erstaunt, der Ihr Buch prägt. Sie schreiben "Wir sind so weit wie noch nie" und argumentieren, dass es nur deshalb ein Thema bleibt, weil auch die Ansprüche steigen. Ist diese Einschätzung angesichts der Flüchtlingsdebatte und der vielen gesetzlichen Hürden für eine erfolgreiche Integration wirklich angebracht?
El-Mafaalani: Als optimistisch würde ich das Buch nicht unbedingt bezeichnen. Ich sollte aber dazusagen: Ich beschreibe die Situation in Deutschland, manchmal auch nur Westdeutschland. Ich glaube, Österreich ist zehn, vielleicht auch 20 Jahre hinter Deutschland, was diese Entwicklung angeht. Die Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte sind in Deutschland unübersehbar, in Österreich waren sie deutlich langsamer. Wenn man nun sieht, dass es Schließungstendenzen gibt, im Sinne von: nicht noch mehr Migranten! Nicht noch mehr nicht-weiße Menschen in Europa! Diese Tendenzen kann es nur geben, wenn es vorher starke Öffnungsprozesse gegeben hat. Was heute als populistisch gilt, war noch vor 40 Jahren Mainstream. Heute fallen solche Positionen auf, weil sie randständig sind. Gleichzeitig muss man sehen, dass die Zuwanderung im letzten Jahrzehnt nicht gering war.
APA: Ihre Bücher sind Bestseller, Sie präsentieren sie in vielen Veranstaltungen. Wie laufen da die Diskussionen über "Wozu Rassismus?"? Eigentlich könnten ja beide Seiten Ihnen Verharmlosung vorwerfen.
El-Mafaalani: Ich habe noch kaum vernünftige Kritik an meinen Thesen wahrgenommen, aber ich bekomme viel Feedback in die Richtung, die Sie ansprechen. Nicht die Diagnose wird bezweifelt, aber der Drall. Man nennt so etwas gerne Framing. Die einen sagen, ich frame es zu positiv, die anderen regen sich etwa über die Aussage: "Überall findet man Rassismus" auf. Sie werfen mir vor, dass ich das Problem zu groß machen würde.
APA: Ist der Trend hin zu einer offenen Gesellschaft durch die Coronakrise ins Stocken geraten?
El-Mafaalani: Ganz bestimmt kommt er in Krisensituationen ins Stocken. In Krisen wird jedes strukturelle Problem akuter. 2015, als die Flüchtlinge in hoher Zahl gekommen sind, wurde über Rassismus und Diskriminierung gar nicht mehr gesprochen. Da drückte der Schuh woanders. Es kam es zu einem gefühlten Kontrollverlust - aber Menschen, die das Gefühl des Kontollverlusts des Staates überwältigt, können sich selbst weniger gut kontrollieren. Alle müssen sich aber kontrollieren, damit Rassismus gebändigt wird. Ohne Kontrolle geht's nicht. Auch in der Coronakrise sind viele positive Bewegungen ins Stocken geraten. Die, die am stärksten auf ein funktionierendes Bildungssystem angewiesen sind, sind jene, die aus ärmeren Familie kommen und jene, die nur in der Schule Deutsch gesprochen haben. Die waren sicher zusätzlich belastet. Am Ende werden wir feststellen, dass Deutschland und Österreich die Krise an sich überdurchschnittlich gut bewältigt haben, bei den Kindern jedoch nur unterdurchschnittlich.
APA: Ich bin Wiener und aufgewachsen in einer fast ausschließlich deutschsprachigen Stadt, in der es Gastarbeiter aus der Türkei und Ex-Jugoslawien gab. Heute ist das Stadtbild deutlich bunter und diverser. Viele Sprachen sind öffentlich präsent. Trotzdem wird das gesellschaftlich und politisch eher als Defizit statt als Chance empfunden: Zuerst sollen die einmal ordentlich Deutsch lernen!
El-Mafaalani: Das ist eine richtige Beobachtung. Da ist Deutschland schon zwei Schrittchen weiter. Bei uns spricht man schon darüber, ob man herkunftsprachlichen Unterricht fördern kann. Ein Lehrstuhl wie der meine, "Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft", wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen. Gleichzeitig ist aber die Handlungspraxis auch in Deutschland noch weitgehend so, wie Sie das beschrieben haben. Das hat tatsächlich etwas zu tun mit einer Haltung, die man gar nicht anders erklären kann als durch die rassistische Geschichte aller Länder - denn in Frankreich ist es ja ganz ähnlich. Gestartet sind alle sehr monolingual, auch Großbritannien, die Niederlanden, Schweden - aber die Veränderungen kommen, da kann man gar nichts dagegen machen. In den Großstädten stammen die Kinder überwiegend aus Familien mit einer internationalen Geschichte, haben also einen Migrationshintergrund. Warten wir noch 20 Jahre, dann kommen sie in den Arbeitsmarkt hinein. Sinnvoll wäre es, sich bereits jetzt darauf einzustellen, also darauf, Diversität systematisch in den Betrieben und im öffentlichen Dienst zu wertschätzen, auch Antidiskriminierungsstrategien zu entwickeln. Ansonsten kann man dann später nur noch reagieren. Gleichzeitig gehen durch den demografischen Wandel bis 2035 unglaublich viele Babyboomer in den Ruhestand.
APA: Was bedeutet das?
El-Mafaalani: Wir werden in den nächsten 15 Jahren eine massive Veränderung haben. Das ist reine Mathematik. Das passiert, auch wenn wir die Grenzen zumachen würden und es keine Zuwanderung mehr gibt. Wenn man es sich in der rassistischen Ecke gemütlich macht, schadet man nur sich selbst. Es gibt nur noch eine Möglichkeit, diese Entwicklung rückgängig zu machen: mit massiver Gewalt. Es geht auch nicht darum, die sprachliche Relevanz des Deutschen infrage zu stellen, sondern zu überlegen, wie man mit den anderen Sprachen umgeht - und mit den Erfahrungen der anderen Menschen. Mit den Diskriminierungserfahrungen dieser Menschen offen umzugehen, ist die Champions League der offenen Gesellschaft.
APA: Mit dem Babyboomer, der in den nächsten Jahren in Pension gehen wird, haben Sie - vielleicht, ohne es zu beabsichtigen - auch über mich gesprochen. Auch sonst komme ich in Ihrem neuen Buch vor: als Vertreter der "letzten freilaufenden Gruppe": "der alte, weiße Mann". Der wird heute überall in seine Grenzen gewiesen von jenen Gruppen, die sagen: Jetzt sind endlich wir dran! Wie kann sich dieser "alte, weiße Mann" auf dem Weg in eine offene Gesellschaft einbringen?
El-Mafaalani: Alles steht und fällt damit, Widersprüche auszuhalten. Früher mussten alte, weiße Männer gar nicht vorsichtig sein. Freiheit endet aber dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Wenn sich jetzt ganz viele andere Gruppen auch ihre Freiheit nehmen, müssen diese Männer nun vorsichtiger sein und können sich nicht mehr wie der Elefant im Porzellanladen benehmen. Offenheit besteht aus Vorsichtig-Sein. Alle glauben, die liberale Demokratie ist so etwas wie das Paradies. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist ein Ort, an dem man vorsichtig sein muss. Etwa mit der Frage: Wo kommt Ihre Familie eigentlich her? Ich empfehle immer, sich daran zu orientieren, wann man jemanden fragen würde, wie viel er verdient, oder wann er oder sie das letzte Mal Sex hatten. Wenn man die Frage mit der gleichen Vorsicht stellt, kann man nichts falsch machen. Gleichzeitig kommt es auch darauf an, wem man die Frage stellt. Meine Mutter würde sich freuen, wenn Sie ihr diese Frage stellen. Sie ist aus Syrien und redet gerne über ihre Herkunft und ihre Sehnsucht. Wenn Sie aber meiner Tochter dieselbe Frage stellen, wird das Gespräch sehr unangenehm.
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
ZUR PERSON: Aladin El-Mafaalani (geb. 1978 in Datteln/Nordrhein-Westfalen) ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Er studierte Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Pädagogik sowie Arbeitswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, wo er auch im Hauptfach Soziologie promoviert wurde. Seine Bücher "Das Integrationsparadox" (2018) und "Mythos Bildung" (2020) waren auf den Bestseller- und Bestenlisten. Im September erschien mit "Wozu Rassismus?" sein zehntes Buch. Es ging bereits in die dritte Auflage.
(S E R V I C E - Aladin El-Mafaalani: "Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand", Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 12,40 Euro; Auftritte am Freitag auf der "Buch Wien": 12.50 Uhr, ORF-Bühne: "Live in Ö1 Punkt eins"; 19 Uhr, Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog, Wien 19, Armbrustergasse 15, https://www.mafaalani.de/)
Zusammenfassung
- Der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani ist mit Büchern wie "Das Integrationsparadox" und "Mythos Bildung" eine wichtige Stimme in der gesellschaftlichen Debatte geworden.
- Mit der APA sprach er über Funktionen von Rassismus, den unaufhaltsamen gesellschaftlichen Wandel und über die Zukunft des "alten, weißen Mannes".