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Sigmund Freud Museum zeigt "eine besondere Fluchtgeschichte"

Ab morgen zeichnet die neue Ausstellung des Wiener Sigmund Freud Museums die Schicksale der überwiegend jüdischen Wiener Psychoanalytiker und -analytikerinnen nach, die Wien nach dem "Anschluss" verlassen mussten. Es handle sich dabei um "eine besondere Fluchtgeschichte", sagte Direktorin Monika Pessler bei der heutigen Pressekonferenz. Fast alle Mitglieder und Kandidaten der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) konnten mit internationaler Hilfe flüchten.

Ausgegangen wird bei der Ausstellung "Organisierte Flucht - Weiterleben im Exil. Wiener Psychoanalyse 1938 und danach", die bis Ende April 2022 zu sehen ist, von einer 20-seitigen Liste, auf die Thomas Aichhorn von der "Arbeitsgruppe zur Geschichte der Psychoanalyse" vor rund 20 Jahren im Archiv der British Psychoanalytical Society London gestoßen war. "Es war ein Zufallsfund", sagte Aichhorn heute. Die 1938 offenbar großteils von dem britischen Psychoanalytiker Ernest Jones angelegte Liste mit rund 90 Namen - davon zwei Drittel WPV-Mitglieder und ein Drittel 30 Kandidaten - diente als Arbeitsinstrument, um die Flucht der Wiener Psychoanalytiker zu organisieren und zu verfolgen.

Denn bereits am 13. März 1938, einen Tag nach dem "Anschluss" Österreichs, wurde vom WPV-Vorstand beschlossen, dass sämtliche Mitglieder das Land so schnell wie möglich verlassen sollten und der Sitz der Vereinigung an den künftigen Wohnort von Sigmund Freud zu verlegen sei. Man war sich einig, dass man keine Zeit verlieren sollte - zumal 38 der 43 damals in Wien lebenden Mitglieder von den Nürnberger Rassengesetzen betroffen waren. "Damals war es noch möglich, das Land zu verlassen", sagte Daniela Finzi, die gemeinsam mit Pessler in Kooperation mit der "Arbeitsgruppe zur Geschichte der Psychoanalyse" die Ausstellung kuratiert hat. "Es war in Wien durch die deutschen Erfahrungen klar, dass die Mitglieder höchst gefährdet waren", erzählte Aichhorn. Dank der von Anna Freud und Ernest Jones organisierten Hilfe der weltweiten psychoanalytischen Community gelang fast allen die Flucht - bis auf wenige Ausnahmen. Aichhorn: "Es ist leider keine lückenlos geglückte Unternehmung gewesen." Rosa Walk, Ernst Paul Hoffmann, Nikola Sugar und Otto Brief wurden nach ihrer Flucht interniert, ermordet oder starben an den Folgen der Internierung.

In den vergangenen Jahren hat man nicht nur die Flucht, sondern auch das weitere Schicksal der WPV-Mitglieder und -Anwärter recherchiert - kein einziger kehrte nach Ende des Krieges dauerhaft nach Wien zurück, praktisch alle verloren Freunde oder Familienmitglieder in der Shoah. Viele der Geflüchteten hatten es in der Migration nicht einfach - in den USA musste man ein abgeschlossenes Medizinstudium nachweisen, in London war die psychoanalytische Szene laut Aichhorn keineswegs begeistert über soviel neue Konkurrenz aus Wien.

Für die mit viel Holz labyrinthisch angelegte Präsentation der zusammengetragenen Materialien hat man sich auf zehn exemplarische Biografien konzentriert, macht die Fluchtrouten nachvollziehbar und gibt auch einen kurzen Einblick in die Geschichte der Psychoanalyse unter den Nationalsozialisten (inklusive einer Liste inkriminierter Termini) sowie in die Wiedergründung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung nach dem Krieg. Sigmund Freud selbst, der bei der Sitzung am 13. März 1938 nicht anwesend war, verließ die Stadt mitsamt seiner Familie erst am 4. Juni 1938 Richtung London, wo er am 23. September 1939 starb.

(S E R V I C E - "Organisierte Flucht - Weiterleben im Exil. Wiener Psychoanalyse 1938 und danach", Sonderausstellung im Sigmund Freud Museum, Wien 9, Berggasse 19, 12. November 2021 bis 30. April 2022, Mi bis So & Feiertag 10-18 Uhr, https://www.freud-museum.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Ab morgen zeichnet die neue Ausstellung des Wiener Sigmund Freud Museums die Schicksale der überwiegend jüdischen Wiener Psychoanalytiker und -analytikerinnen nach, die Wien nach dem "Anschluss" verlassen mussten.
  • Es handle sich dabei um "eine besondere Fluchtgeschichte", sagte Direktorin Monika Pessler bei der heutigen Pressekonferenz.
  • "Es war ein Zufallsfund", sagte Aichhorn heute.