PULS 24-Person des Jahres: Gisèle Pelicot
Das Schamgefühl hat die Seite gewechselt. Und das dank der Französin Gisèle Pelicot, deren Leben sich am 12. September schlagartig änderte. Ihr bis dahin unbescholtener Mann (Anm. jetzt Ex-Mann) Dominique Pelicot wurde bei einem Supermarkt-Besuch dabei erwischt, wie er Frauen unter den Rock fotografierte. Er habe "etwas Dummes" getan, sagt er Gisèle.
Sie kann das Gehörte nicht glauben, sichert ihm aber ihr Vertrauen zu. Wenig später wird sie es dann vollständig verlieren.
Denn als die Pelicots zwei Monate später in die Polizeistation geladen werden, wird ein Beamter Gisèle mit etwas für sie Unvorstellbarem konfrontieren. Die Polizei hatte die Handys und den Laptop ihres Mannes beschlagnahmt. Sie fanden darauf 20.000 Bild- und Videodateien - von Gisèle, wie sie von ihrem Ehemann und Fremden vergewaltigt wird.
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Für Gisèle bricht eine Welt zusammen. Dominique Pelicot wird in Polizeigewahrsam genommen und dann verhaftet. Sie wird ihn erst vier Jahre später - im September 2024 vor Gericht in Avignon - wiedersehen. Er in einem Glaskasten, sie umgeben von ihren Anwälten und Kindern.
Über 200 Vergewaltigungen
Es ist jener Tag, der Prozessauftakt, an dem die Welt von den grausamen Taten ihres nunmehrigen Ex-Mannes erfährt. Er hatte sie über ein Jahrzehnt betäubt, vergewaltigt und fremde Männer in das gemeinsame Haus eingeladen, um dasselbe zu tun.
Ihr Ex-Mann war in Internetforen und Chats auf einen Mann gestoßen, der ihm Fotos seiner mit Schlaftabletten bis zur Bewusstlosigkeit betäubten Frau schickte. Er gab Dominique Pelicot eine Anleitung, die er dann bei Gisèle umsetzte. Er erkannte, dass er mit der richtigen Dosierung seine Frau so schwer betäuben konnte, bis sie nichts mehr weckte. Die Zeit nutzte er, um sie in Dessous zu kleiden, sie zu vergewaltigen und die Taten zu filmen.
In einem Chatroom rekrutierte er 71 Männer, die sich dann an Gisèle vergingen. Über 200 Mal wurde sie vergewaltigt, größtenteils von Dominique Pelicot.
Im Laufe der Jahre glaubte Gisèle, krank zu sein. Sie verlor an Gewicht, Haarbüschel fielen aus und Blackouts wurden häufiger. Sie entwickelte zudem gynäkologische Probleme und unterzog sich neurologischen Tests, um etwa Alzheimer oder einen Hirntumor feststellen zu können. Manchmal schöpfte sie beinahe Verdacht. Etwa, als sie die grüne Farbe ihres Bieres bemerkte.
Ex-Mann erhielt Höchststrafe
Der Prozess, der am Donnerstag, dem 19. Dezember 2024 zu Ende ging, gilt als eine der schlimmsten Sexualstraftaten in der Geschichte Frankreichs und löste Debatten über das Strafrecht zu sexueller Gewalt im Land aus.
Ihr Ex-Mann bekannte sich schuldig und wurde zu der Höchststrafe, 20 Jahre Haft, verurteilt. Neben dem Hauptangeklagten standen 50 weitere Männer vor Gericht. Die Polizei konnte nicht alle 71 Männer ausfindig machen.
47 von ihnen wurden wegen Vergewaltigung, zwei wegen versuchter Vergewaltigung und zwei wegen sexueller Nötigung verurteilt. Die Anklage forderte zwischen 4 und 18 Jahre Haft für die Männer, die zur Tatzeit zwischen 21 und 68 Jahre alt gewesen sein sollen.
"Merci Gisèle"
Gisèle wird zur Galionsfigur einer Bewegung. Beinahe täglich schafften es Aussagen Pelicots in die Schlagzeilen. Ihre fürchterlichen Erzählungen kumulierten in einem französischen Ableger der #MeToo-Bewegung. Es kam zu Demonstrationen. "Merci Gisèle" wurde skandiert.
Der Grund: Nicht nur die äußerst grausame Tat ihres Mannes, sondern die Courage der 72-Jährigen. Sie hatte sich bewusst dazu entschieden, die Öffentlichkeit und die Medien in den Prozess einzuschließen - und damit ihre Anonymität aufzugeben. "Damit das Schamgefühl die Seite wechselt", so ihre Begründung. Ein programmatisches Zitat, das später zu Graffitis wird und als Aufschrift von Plakaten dient.
Wenn Gisèle das Gericht betrat oder verließ, wurde sie meist von tosendem Applaus begleitet. Etwas, das sie immer lächelnd, winkend und besonnen entgegennahm. Auch im Gericht verhielt sie sich ruhig, bedacht und beschimpfte ihren nunmehrigen Ex-Mann, den sie vor Gericht nur Monsieur Pelicot (z. Dt.: Herr Pelicot) nannte, nicht.
Für ihre Besonnenheit wurde sie viel kritisiert. Sie würde ihren Ex-Mann verschonen, hieß es. Auch das nahm sie wortlos hin. Andere bewunderten ihre Contenance.
Gisèle glaubt an "bessere Zukunft"
Doch ihre Aussagen bewegten die Welt. Am letzten Prozesstag wendete sie sich erstmal selbst an die Medienöffentlichkeit. Sie bedankte sich bei ihren Anwälten. Sie habe es "nie bereut", den Prozess öffentlich zu machen.
Sie glaube daran, dass man gemeinsam eine bessere Zukunft finde, "in der Frauen und Männer gleichermaßen in gegenseitigem Respekt zusammenleben können".
Gisèle und ihr Ex-Mann - die Scheidung wurde kurz vor Prozessbeginn vollzogen - waren 50 Jahre verheiratet. Im 6.000-Seelen-Dorf Mazan wollten sie ihren letzten Lebensabschnitt gemeinsam verbringen. Nun wohnt die heute 72-Jährige weit weg von dem kleinen Dorf.
Sie ist in psychiatrischer Betreuung, nimmt aber keine Medikamente mehr. Sie will keine Substanzen mehr einnehmen.
Sie hat ihren Mädchennamen wieder angenommen, vor Gericht aber den Nachnamen "Pelicot" verwendet. Der Grund: Sie wollte, dass ihre Enkelkinder stolz sind, den Namen Pelicot zu tragen und ihn nicht mit ihrem Großvater in Verbindung bringen.
Video: Pelicot gibt erstes Statement nach Urteil ab
Zusammenfassung
- Warteschlangen vor Gericht in Avignon, Demos und tosender Applaus.
- Frankreich verdaut derzeit den beispiellosen Massenvergewaltigungsprozess um Gisèle Pelicot.
- Ihr Mann verging sich nicht nur mehrmals an ihr, sondern lud auch Fremde dazu ein.
- Doch vom Fall blieben nicht nur die grausamen Erzählungen vor Gericht, sondern auch der Mut und die Entschlossenheit der 72-Jährige.
- PULS 24 kürt Gisèle Pelicot zur Person des Jahres.