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"Onkel Wanja": Tempo statt Lethargie in der Josefstadt

Die Hausbar als nicht so heimliches Zentrum der Wohngemeinschaft wider Willen, das dringende Bedürfnis nach einer Familienaufstellung und Nirvanas "Territorial Pissings" auf der improvisierten Wohnzimmerbühne: Amélie Niermeyer hat sich nach ihrer gefeierten "Kirschgarten"-Inszenierung 2019 im Theater in der Josefstadt nun Tschechows "Onkel Wanja" vorgenommen und setzte bei der Premiere am Donnerstag auf Komik statt Tragik, Schallplatte statt Stille und Tempo statt Lethargie.

Das von Christian Schmidt im 70er Jahre-Stil eingerichtete Drehbühnen-Landgut verfügt über ein holzvertäfeltes Foyer, von dem eine Treppe in den ersten Stock führt. Dass man selbst auf einem Stiegengeländer abhängen kann, demonstriert Raphael von Bargen als Wanja gleich in der ersten Szene mit an Akrobatik grenzender Schlaffheit. Es wird der lethargischste Moment des knapp dreistündigen Abends bleiben: Denn das Haus, das er sonst nur mit seiner Nichte Sonja und seiner Mutter Maria Wojnizkaja bewohnt, wurde von Sonjas Vater und dessen neuer Ehefrau regelrecht heimgesucht und das gewohnte Gefüge aus Arbeit und noch mehr Arbeit gerät aus dem Gleichgewicht.

Das neue Zusammenleben auf doch engem Raum will nicht so recht funktionieren. Während sich Joseph Lorenz als von der Gicht geplagter Professor Serebrjakow meist in jenem Badezimmer verschanzt, das sich direkt über der Küche befindet, versucht Alma Hasun als seine junge, weitaus dynamischere Ehefrau Jelena im Erdgeschoß für Ruhe zu sorgen. Dort steht nämlich jener Plattenspieler, dem im Laufe des Abends nicht weniger als ein Dutzend Songs - von "Love will tear us apart" (in insgesamt drei Versionen) über "Should I stay or should I go now" bis hin zu Caterina Valentes "Es geht besser, besser, besser" - entspringen. Es sind Lieder, die die jeweilige Stimmung unterstreichen, das Ungesagte zwischen den Figuren hör- und spürbar machen. Auch das Klavier im Foyer kommt mehrfach zum Einsatz, etwa bei Franz Schuberts "Ständchen", das Hasun anstimmt.

Niermeyer setzt in ihrer sprachlich meist behutsam ans Heute angeglichenen Deutung des 1899 uraufgeführten Stücks auf das stetige Spiel zwischen Anziehung und Abstoßung: Während eine grandios verschrobene Johanna Mahaffy als Sonja im blonden Vokuhila dem feschen Arzt Astrow (als Prototyp des begehrenswerten Mannes: Alexander Absenger) näher kommen will, entbrennt Wanja für Jelena, die wiederum in Astrow eine Chance wittert, aus ihrer faden Ehe mit dem alten Professor auszubrechen. Vieles davon geschieht nonverbal, die Spannung zwischen den sich im Raum verrenkenden Körpern ist fast mit den Händen zu greifen.

Während vordergründig die viel zitierte Langeweile im Zentrum steht, geht im Inneren der Figuren die Post ab. Zur Enthemmung trinkt man unheimliche Mengen an Vodka, was zu mehreren akrobatischen Einlagen und sogar einer kurzen lesbischen Szene führt. Mittendrin stolpert Thomas Frank als tölpelhafter verarmter Gutsbesitzer Telegin durch die Szenerie, Marianne Nentwich als Wanjas Mutter weiß sich in brenzligen Situationen - etwa wenn Wanja den Professor mit einem Revolver durch das Haus jagt - nur mehr damit zu helfen, dass sie in der Küchenzeile Eier brät.

Irgendwann wird es Wanja, den von Bargen mit wirrer Frisur, offenem Hemd und einer zwischen Delirium und Depression changierenden Energie gibt, zu bunt. Nach einem erfolglosen Versuch, aus seinem eigenen Körper herauszutreten, um mit sich selbst wieder in Verbindung zu kommen, will er eine Familienaufstellung und beginnt damit, Personen aus dem Publikum Rollen zuzuweisen. Am Höhepunkt seiner Verzweiflung versteckt er sich gar in den Sitzreihen im Saal.

Niermeyer hat es mit ihrer Fassung geschafft, den Topos der Aussichtslosigkeit in gedankenlosen Hedonismus zu gießen und eine Gesellschaft zu zeichnen, an der Astrows Bemühungen zum Schutz des Waldes - den Janosch Abel mit Videoprojektionen direkt ins Wohnzimmer holt - abprallen. Während er über den Erhalt des Ökosystems philosophiert, versucht ihn Jelena zu verführen. Am Ende ist alles, wie es begonnen hat. Plus der zahlreichen tiefen Verletzungen, die das Zusammenleben hinterlassen hat. Lang anhaltender Jubel beschloss Niermeyers flotten, trotz der vordergründigen Action auf präzise Figurenarbeit setzenden Abend, der deutlich macht: Am Ende sind sie alle "All by myself".

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - "Onkel Wanja" von Anton Tschechow im Theater in der Josefstadt. Regie: Amélie Niermeyer, Bühne: Christian Schmidt, Kostüme: Stefanie Seitz, Musikalische Leitung: Imre Lichtenberger Bozoki, Video: Janosch Abel; mit Joseph Lorenz, Alma Hasun, Johanna Mahaffy, Marianne Nentwich, Raphael von Bargen, Alexander Absenger und Thomas Frank. Nächste Termine: 15., 22. und 30. November sowie 1., 15. und 17. Dezember. www.josefstadt.org)

ribbon Zusammenfassung
  • Amélie Niermeyer inszeniert Tschechows 'Onkel Wanja' im Theater in der Josefstadt mit Fokus auf Komik und Tempo, weg von der traditionellen Lethargie.
  • Das Bühnenbild im 70er Jahre-Stil und die musikalische Untermalung mit einem Dutzend Songs schaffen eine dynamische und emotionale Atmosphäre.
  • Die Inszenierung betont das Spiel zwischen Anziehung und Abstoßung, während Alkohol zur Enthemmung der Figuren führt.
  • Raphael von Bargen als Wanja beeindruckt mit einer starken körperlichen Präsenz und changierender Energie zwischen Delirium und Depression.
  • Die Premiere wurde mit langanhaltendem Jubel gefeiert, die nächsten Aufführungen sind für den 15., 22. und 30. November sowie 1., 15. und 17. Dezember geplant.