Komponist Tobias Picker spricht gerne mit einem Instrument
APA: Sie waren schon 20 Jahre lang Komponist, bis sie 1996 mit "Emmeline" Ihre erste Oper veröffentlicht haben. Weshalb diese lange Vorlaufzeit?
Tobias Picker: Ich wusste immer, dass ich eines Tages eine Oper schreiben würde. Ich wusste aber auch, dass ich davor enorm viel schreiben musste, um diese Kunstform zu verstehen, bevor ich mich der Königin der performativen Künste nähere. Ich komponiere zwar immer noch leidenschaftlich Orchestermusik, auch wenn ich nun schon an meiner siebenten Oper schreibe. Aber ich liebe die Oper - sie ist das Hochamt der Stimme. Und die Stimme ist das Instrument des Universums. Sänger tragen ihr Instrument in sich - und ich finde es sehr spannend, sich mit einem Instrument zu unterhalten. Mit einer Klarinette geht das nicht. (lacht) Die Stimme ist einfach das archaische Instrument schlechthin.
APA: Viele Ihrer Berufskollegen arbeiten fünf Jahre an einer Oper, Sie hingegen sind recht flott unterwegs...
Picker: Fünf Jahre ist viel zu lange, um sie mit einer Oper zu verbringen. Es ist besser, ein straffes Zeitkorsett zu haben. Ich brauche meist eineinhalb bis zwei Jahre. Zugleich gehöre ich aber auch nicht zur Kategorie der Komponisten wie Wagner, die nur Oper schreiben. Es stinkt mir, Opernkomponist genannt zu werden - das ist Schubladendenken.
APA: Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren alten Stücken: Sind das Ihre Babys, die Sie haben ziehen lassen und das war's?
Picker: Mein Fokus liegt immer auf der Oper, an der ich gerade arbeite. Ich lebe buchstäblich in der Welt des Stücks, durchlebe meine Charaktere. Und bezüglich der vorherigen Arbeiten würde ich sagen: Ich bin ein liebender Elternteil, der am Wohlergehen seiner Kinder interessiert ist, auch wenn sie schon erwachsen sind... Und ab und an schaue ich auf einen Besuch vorbei - komme also gerne, wenn ein Haus meine Stücke inszeniert.
APA: Können Sie für sich definieren, was Sie zu Beginn an einem Stoff reizt, ihn in eine Oper umzuwandeln?
Picker: Die Charaktere müssen mich zutiefst bewegen. Ich möchte, dass das Publikum ergriffen ist. Und das gelingt nicht, wenn ich nicht selbst ergriffen bin. Ich muss mich also mit den Figuren voll und ganz identifizieren können. Insofern bersten die Geschichten, die mich interessieren, geradezu über von Gefühlen.
APA: Das ist eine Motivation, die wohl nur wenige zeitgenössische Komponisten vorbringen würden. Glauben Sie, dass dies ein Grund ist, weshalb Ihre Bühnenwerk so erfolgreich sind?
Picker: Viele meiner Kollegen sind weit erfolgreicher als ich. Aber ich suche das kathartische Momentum für das Publikum. Man kann Umstände psychoanalytisch oder philosophisch betrachten. Im Kern geht es dann aber doch immer um das Gefühl. Für mich ist Musik ein emotionales Erlebnis.
APA: In Wien wird "Thérèse Raquin" nun in einer von Ihnen vor einiger Zeit erstellten Kammerversion gespielt. Ist die Herunterorchestrierung für Sie ein schmerzhafter Prozess?
Picker: Natürlich ist die volle Orchestrierung immer besser. Aber die Fassung funktioniert für kleine Häuser sehr gut. Wenn man in die Kammeroper mit 300 Sitzplätzen 70 Orchestermusiker pferchen würde, wäre das nicht sehr sinnvoll. (lacht) Ich verrate das Stück jedenfalls nicht. 18 Instrumente machen einen sehr ordentlichen Klang.
APA: "Lili Elbe", an der Sie gerade schreiben, ist die zweite Oper, bei der Ihr Ehemann Aryeh Lev Stollman das Libretto verfasst. Wie sieht da die konkrete Zusammenarbeit aus?
Picker: Mit all meinen bisherigen Librettisten war es so, dass sie ein fertiges Libretto vorgelegt haben, worauf ich dann die Musik komponiert habe. Mit Aryeh ist das anders. Er schreibt immer eine Szene, nach der ich dann komponiere. Er ist mir immer eine Szene voraus. Wenn ich dann eine Szene geschrieben habe, sprechen wir darüber, denn ich will immer weniger Worte.
APA: Formuliert sich solch ein Wunsch leichter beim eigenen Partner als bei einem anderen Librettisten? Oder streiten Sie dann am Frühstückstisch über einzelne Zeilen?
Picker: Ach, alle guten Librettisten verstehen, dass die Worte nur der Musik zu dienen haben. Die Worte sollen die Musik aus dem Komponisten hervorkitzeln, nicht umgekehrt. Punkt. Ein Libretto ist kein Theaterstück.
APA: Haben Sie eigentlich Angst, dass die Leute nach all den langen Coronasperren sich daran gewohnt haben, ohne das Liveerlebnis Oper zu leben?
Picker: Nein. Natürlich haben manche Angst, sich wieder unter Menschen zu begeben. Aber noch weiter schrumpfen als bisher ohnehin schon wird das Opernpublikum wohl nicht. (lacht) Ich glaube, alle haben genug von Lockdowns und sind hungrig auf Liveperformances. Angst habe ich eher vor den physischen Auswirkungen der Pandemie auf die Menschen. Die Frage ist, ob es neurologische Langzeitfolgen geben wird, was auch mein Mann Aryeh, der auch Neuroradiologe ist, befürchtet. Historisch betrachtet könnte man durchaus sagen, dass auf die Spanische Grippe von 1918 die Große Depression gefolgt ist.
APA: Man könnte auch sagen, dass nach die Goldenen 20er kamen...
Picker: Man könnte auch sagen, dass danach der Große Börsenkrach von 1929 kam...
(S E R V I C E - "Thérèse Raquin" von Tobias Picker in der Kammeroper, Fleischmarkt 2, 1010 Wien. Musikalische Leitung des Wiener Kammerorchesters: Jonathan Palmer Lakeland, Regie: Christian Thausing, Bühne: Christoph Gehre. Mit Thérèse Raquin - Valentina Petraeva, Camille Raquin - Andrew Morstein, Madame Raquin - Juliette Mars, Laurent - Timothy Connor, Suzanne - Miriam Kutrowatz, Olivier - Ivan Zinoviev, Monsieur Grivet - Hyunduk Kim. Premiere am 16. Dezember. Weitere Aufführungen am 18. Dezember sowie am 10., 13., 17. und 20. Jänner 2022. www.theater-wien.at/de/programm/production/1026/Therese-Raquin)
Zusammenfassung
- Die Kammeroper zeigt als erstes Wiener Haus am Donnerstag mit "Thérèse Raquin" eines der Werke des 67-jährigen New Yorkers.
- Und auch wenn Picker aufgrund der Coronaverschiebungen nun nicht persönlich zur Premiere erscheinen kann, hat die APA mit dem Tonsetzer über das Hochamt der Stimme, das Sprechen mit einem Instrument und die Überwältigung des Gefühls gesprochen.