Ist Ulrich Seidl bei der Berlinale auf Bärenkurs?
Als zweiter Film sticht auch ohne patriotische Brille "Rimini" des österreichischen Kultregisseurs Ulrich Seidl hervor. Seidl, Garant für bisweilen abstoßende Sujets, schreckt auch diesmal nicht vor der Konfrontation mit dem Degoutanten zurück. Doch schon die Idee, einen abgehalfterten Schlagersänger und in die Jahre gekommenen Nebenerwerbsgigolo an der winterlichen Adria in den Mittelpunkt zu stellen, verdient Beachtung. Großartig ist aber vor allem die Darstellung durch Michael Thomas. Er und die die wunderbare Meltem Kaptan als Mutter Kurnaz hätten entsprechend gute Chancen auf den Darstellerpreis.
Immer wieder beschäftigten sich heuer im Wettbewerb Filme mit Verlusterfahrungen, allen voran "Un año, una noche", der um die Traumabewältigung der Betroffenen des Terroranschlags auf das Pariser Bataclan kreist. Im Eröffnungsfilm "Peter von Kant" ist es der Verlust des Geliebten, im zarten Beziehungsstreifen "Return to Dust" der Tod der Ehefrau. Dieser chinesische Film könnte durchaus auch einen Bären einheimsen, vielleicht für die beste Kamera oder das beste Drehbuch. So wie auch der Schweizer Beitrag "Drii Winter". Beide so unterschiedlichen Filme verbindet die Ruhe ihrer Einstellungen, die präzise Beobachtung von Natur und Mensch.
Wie im chinesischen Beitrag geht es auch in "Alcarràs" um Mensch und Landwirtschaft. In diesem spanisch-italienischen Film verliert eine katalanische Großfamilie ihre allsommerliche Ferienbeschäftigung auf einer Obst- und Gemüseplantage, weil dort ein Solarpark gebaut werden soll. Liebevoll sind in dem in katalanischer Sprache gedrehten Film die einzelnen Charaktere der Familienmitglieder, besonders die der Kinder, gezeichnet.
Ganz im Gegenteil zum mexikanischen Beitrag "Robe of Gems", wo sich die Familienmitglieder bis zum Schluss nicht gut zuordnen lassen. Auch hier verliert eine Familie, die in das Haus der verstorbenen Großmutter gezogen ist, indem sie wieder zurück in die Stadt zieht. Denn die Waffenmafia scheint auf dem Land alles zu dominieren, bis hinein in die Polizei.
Auffallend am diesjährigen Berlinale-Wettbewerb war die hohe Zahl frankofoner Produktionen: Vom Eröffnungsfilm "Peter von Kant", in dem es um den Verlust der großen Liebe geht, über "La ligne" aus der französischsprachigen Schweiz (temporärer Verlust der eigenen Familie), "Avec amour et acharnement" über eine Frau zwischen zwei Männern, "Un été comme ca" über drei sexsüchtige Frauen bis zu "Les passagers de la nuit", der eine Familie, die sich neu definiert, behandelt.
Was bleibt? Recht ordentlich gemachtes Kino ohne größeren Gewinnchancen: Der amerikanische Film "Call Jane", der das Thema Schwangerschaftsabbruch als Abtreibung von der Stange behandelt, der deutsche Beitrag "AEIOU - Das schnelle Alphabet der Liebe" über die Beziehung einer von Sophie Rois gespielten, älteren Schauspielerin zu einem verhaltensauffälligen Jüngling und "Nana", ein exotisches Frauenbild aus Indonesien.
"Leonora addio" ist eine italienische Spezialität für Cineasten, der Dioramen-Film "Everything will be ok" eine interessante Bereicherung für jene, die sich für etwas anders animiertes Kino interessieren. Vielleicht könnte noch der letzte Wettbewerbsfilm, "The Novelist's Film" von Hong Sangsoo aus Südkorea, für einen Bärengewinn stehen? Die Berlinale war noch immer für Überraschungen gut. Gewissheit wird dann ab dem morgigen Mittwoch, 19 Uhr, herrschen, wenn die Jury unter Vorsitz von Horrorexperte M. Night Shyamalan im Berlinale Palast ihre Entscheidungen verkündet.
Zusammenfassung
- Zum einen wäre da die Geschichte der Mutter des auf Guantanamo festgehaltenen Murat Kurnaz, "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush".
- Anders als viele deutsche Filme, die reale Dramen mit viel Bedeutungsschwere umsetzen, ist Regisseur Andreas Dresen ein durchaus auch humorvoller Streifen gelungen.
- Als zweiter Film sticht auch ohne patriotische Brille "Rimini" des österreichischen Kultregisseurs Ulrich Seidl hervor.