Festival Retz feierte Wiederentdeckung eines Oratoriums
Auf jeden Fall gebührte der Beifall den Musikern des im linken Seitenschiff platzierten Ensemble Continuum Wien sowie dem Chor unter der Leitung von Luca De Marchi, der das Werk auch rekonstruiert und aus vier Quellen in eine musikalische Fassung gebracht hat, und auch dem ausgezeichneten Solistenquartett: Eldrid Gorset als Abel - also eigentlich Abeline -, Cornelia Sonnleitner als Eva, Markus Bjorlikke als Kain und Nikita Ivasechko als Adam. Und das 1738 in Bologna uraufgeführte Oratorium ist einer Wiederentdeckung absolut wert und enthält Passagen von erlesener Schönheit.
Nun ist das Oratorium prinzipiell keine Form der szenischen Darbietung. Wenn doch eine Inszenierung erfolgt, begibt man sich immer auf schwankendes Terrain. In Retz hat die Schweizer Animationsfilmerin Nicole Aebersold ein interessantes Konzept entwickelt: Sie verwandelt sukzessive das Altarbild der Kirche, indem sich Wolkenformationen und Personenkonstellationen ändern, bis man schließlich einem filmischen Prozessionszug von insgesamt über 100 Retzerinnen und Retzern durch die Stadt folgt. Das ergibt eine ästhetische optische Ebene, die das Geschehen ergänzt und gleichermaßen davon ablenkt.
Die Inszenierung (Regie und Bühnenbild: Sebastian Hirn) arbeitet zum Teil mit konventionellen, zum Teil mit irritierenden Elementen. Schon beim Eingang muss man sich an einer staubsaugenden Frau vorbei zwängen, die sich später als Eva entpuppt, und im Mittelgang der Kirche sind Nummerntafeln aufgestellt wie bei einer Tatortsicherung. So ist es wohl auch gemeint. Warum Adam in kurzen rosafarbenen Hosen und gelben Stiefeln auftreten muss, Kain mit Tennissocken unter der weiten Dreiviertelhose und auf Evas Shirt ein Herz-Jesu-Emblem prangt, entzieht sich dem geschmacklichen Verständnis.
Die Bühne ist einerseits mit zahllosen Grabkerzen, andererseits mit Blumen und Kuscheltieren übersät. Da ist die Assoziation zum "Friedhof der Kuscheltiere" nicht weit. Die offenkundige historische Aufführungspraxis, Abel mit Kastraten- oder Frauenstimme zu besetzen, bringt eine spannende Perspektive ein: War der Brudermord in Wahrheit ein Schwesternmord? Haben wir es mit dem ersten Femizid zu tun? Beeindruckend auch der Schluss: Als Adam die Familie verlässt, ruft ihm Eva nach: "Du verurteilst Kain und trägst ihn dabei in dir!" - zeitgemäßer könnte ein Appell gegen vorschnelle Selbstgerechtigkeit nicht sein.
Eine Reihe von Rahmenveranstaltungen beim Festival Retz bietet u.a. am 10. Juli ein Galakonzert mit Adam Plachetka in Zusammenarbeit mit dem Partnerfestival Hudební Festival Znojmo in der St. Nikolaus-Kirche in Znaim, am 18. Juli einen Abend mit Lesung (Karin Peschka) und Konzert (Ensemble XXI. Jahrhundert), am 20. Juli "Belcanto Furioso" auf Schloss Schrattenthal und am 21. Juli um 11 Uhr ein Konzert auf der Thaya-Brücke von Hardegg anlässlich der Festivalpartnerschaft Retz-Znojmo.
(Von Ewald Baringer/APA)
(S E R V I C E - Leonardo Leo: "La Morte di Abele", Regie und Bühne: Sebastian Hirn. Musikalische Leitung: Luca De Marchi. Mit Eldrid Gorset, Cornelia Sonnleithner, Markus Bjorlykke und Nikita Ivasechko. Festival Retz. Weitere Aufführungen bis 21. Juli. Information und Tickets: www.festivalretz.at)
Zusammenfassung
- Christian Baier, der neue Intendant des Festival Retz, feierte seinen Einstand mit der Österreichischen Erstaufführung des Oratoriums 'La Morte di Abele' von Leonardo Leo, das am Freitagabend in der Stadtpfarrkirche St. Stephan aufgeführt wurde.
- Die Inszenierung von Sebastian Hirn kombinierte konventionelle und irritierende Elemente, während die Schweizer Animationsfilmerin Nicole Aebersold ein visuelles Konzept entwickelte, das das Altarbild der Kirche sukzessive veränderte.
- Das Festival Retz bietet eine Reihe von Rahmenveranstaltungen, darunter ein Galakonzert mit Adam Plachetka am 10. Juli und weitere Aufführungen bis zum 21. Juli.