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"Empusion": Olga Tokarczuk führt auf den Zauberberg

"Empusion" heißt der im Original im Vorjahr und nun in deutscher Übersetzung erschienene erste Roman der polnischen Autorin Olga Tokarczuk nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises im Jahre 2019. Laut der Autorin ist der Titel eine Zusammensetzung aus Symposium und Empusa, einer weiblichen Schreckgestalt der griechischen Mythologie. Und tatsächlich sorgt die Frau als Archetyp für ordentliche Schrecken unter den in einem "Gästehaus für Männer" versammelten Kurgästen.

Ort der Handlung ist Görbersdorf in Niederschlesien. Heute heißt die in einem auf 500 Meter Seehöhe gelegenen Talkessel unweit der tschechischen Grenze gelegene polnische Ortschaft Sokołowsko, benannt nach dem einst hier tätigen (und auch in dem Roman präsenten) Internisten Alfred von Sokołowski. Denn das Sanatorium für Lungenkrankheiten, in dem die von Tokarczuk versammelten Gäste behandelt werden, gab und gibt es wirklich - wie auch abgedruckte Ansichtskarten aus dem Privatarchiv der Autorin belegen. Der in einem malerischen Bergland weit abseits jeglichen Trubels gelegene Luftkurort erfreute sich Ende des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit bei Gästen aus nah und fern. Wer jetzt an Thomas Manns in Davos spielenden "Zauberberg" denken muss, liegt völlig richtig. Nicht nur soll die in seinem Buch von ihm beschriebene Luftkur hier entwickelt worden sein, auch ist Tokarczuks Roman unverkennbar eine Paraphrase, nicht nur, weil die Handlung ebenfalls quasi am Vorabend des Ersten Weltkriegs spielt.

Angst haben die Männer jedoch weniger vor dem nahenden Krieg, sondern vor der Weiblichkeit an sich. Die seitenlangen misogynen Auslassungen aus den zu der einen oder anderen Flasche des Likörs Marke "Schwärmerei" geführten Männergesprächen, die beim Lesen nahezu unerträglich sind, verdanken sich samt und sonders Texten von rund drei Dutzend Autoren, schreibt Tokarczuk am Ende und listet ihre frauenfeindlichen Inspiratoren fein säuberlich auf - von Aurelius Augustinus über Charles Darwin und Sigmund Freud bis zu Richard Wagner, Frank Wedekind und Otto Weininger.

"Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte" heißt der Roman im Untertitel, und schauerlich ist gar manches Vorkommnis, mit dem der im Herbst 1913 aus Lemberg angereiste junge Student der "Wasser- und Canalisationsbautechnik" Mieczysław Wojnicz vor Ort konfrontiert wird. Die von ihm zunächst als Bediente wahrgenommene Gattin des Pensionsbetreibers liegt bereits anderntags tot auf dem Esstisch, nach einem Selbstmord, der zu Spekulationen Anlass gibt. Rätsel geben auch angeblich regelmäßig vorkommende furchtbare Todesfälle in den umliegenden Wäldern auf. Dass einst dorthin vor ihrer sonst sicheren Verbrennung geflüchtete, als Hexen gebrandmarkte Frauen des Dorfes dort noch immer ihr Unwesen treiben, ist nur ein Gerücht - die von den ansässigen Köhlern aus Moos und Steinen zur Befriedigung geschaffenen "Tuntschis", gleichsam aus Naturmaterialien geformte Sexpuppen, bekommt der junge Mann jedoch persönlich zu Gesicht. Und auch die nächtlichen Geräusche, die er immer wieder von oberhalb seines Zimmers hört, sind beunruhigend.

Der an Schwindsucht erkrankte junge Mann gibt aber auch Rätsel auf - dem behandelnden Arzt, vor dem er sich nie komplett entkleiden möchte, und den übrigen Patienten und Kurgästen, die aus vielen Teilen Europas kommen und auch sehr unterschiedliche weltanschauliche Grundsätze vertreten. Sie spüren allmählich: Der sensible, fragile junge Pole ist anders als sie. Allmählich entscheidet sich "Empusion", in dem sich immer wieder eine geheimnisvolle Erzählstimme auf ein "wir" beruft, das über den Dingen zu schweben scheint, endgültig für das Genre eines genderfluiden Schauerromans, in dem nicht nur die im hierarchischen und überheblichen Denken der Männer so einzementiert scheinenden Geschlechtergrenzen verschwimmen, sondern auch jene zwischen Wissenschaftlichkeit und Irrationalität. Und das kommt einem am Ende doch ziemlich heutig vor.

(S E R VI C E - Olga Tokarczuk: "Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte", Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, 384 Seiten, 26,80 Euro)

ribbon Zusammenfassung
  • "Empusion" heißt der im Original im Vorjahr und nun in deutscher Übersetzung erschienene erste Roman der polnischen Autorin Olga Tokarczuk nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises im Jahre 2019.
  • Laut der Autorin ist der Titel eine Zusammensetzung aus Symposium und Empusa, einer weiblichen Schreckgestalt der griechischen Mythologie.
  • Wer jetzt an Thomas Manns in Davos spielenden "Zauberberg" denken muss, liegt völlig richtig.