Eindrücklicher "Kaukasischer Kreidekreis" in Salzburg
Schauspielchefin Bettina Hering hat ihrer Regisseurin keine leichte Aufgabe gestellt. Das konnte man ihrem im Programmheft abgedruckten Probetagebuch entnehmen. Bereits im Pressegespräch vor einigen Tagen erzählte sie, dass ihr auch Brechts Verlag und Erben schwer im Magen gelegen hätten, die für ihre Penibilität im Umgang mit den Texten berüchtigt sind. Doch man einigte sich auf Lockerungen. Damit stand der Weg frei für eine eigene Fassung des "Kreidekreises", denn ein gewöhnliches Inszenieren bzw. Spielen des Textes stand nicht zur Debatte. Sowohl das Kollektiv Rimini Protokoll als auch das Theater Hora haben ihre ganz eigene Philosophie, wenn es darum geht, Texte zu erarbeiten.
Die Horas aus Zürich sind seit 30 Jahren Pioniere auf ihrem Gebiet, denn das Ensemble besteht aus unterschiedlich stark kognitiv beeinträchtigten Personen. Man ist also hier und da auf technische Hilfsmittel angewiesen, wie beispielsweise In-Ear-Kopfhörer, durch die die Spieler Unterstützung für Text und Ablauf bekommen. Doch das minderte weder die Spielfreude der Schauspieler, noch den Genuss des Publikums ihnen dabei zuzusehen.
Brecht war nicht der erste, der sich den Stoff um den Streit zweier Mütter um ein Kind zur Brust nahm. Wer ist die rechtmäßige Mutter? Die wohlhabende leibliche, die das Kind verließ, oder die mittellose Ziehmutter, die es unter Einsatz ihres Lebens aufzog? Seit dem alten Testament ist es ein Richter, der mit dem Urteil betraut wird. Doch bei den gemeinsamen Proben kam Remo Beuggert, der den Richter spielt, die Idee, diese Kette zu durchbrechen. Anstatt die Mütter versuchen zu lassen, das Kind mit einem aus Kreide gemalten Kreis zu sich zu ziehen, hätte er lieber das Kind gefragt, wen es als seine Mutter sehe. Nicht nur als Richter zog Beuggert an diesem Abend die Fäden. Letztlich über zwei Stunden fungierte er als großartiger Erzähler, half seinen Kollegen über technische Probleme und Textschwierigkeiten und trieb den Abend voran. Doch auch er konnte letztlich nicht verhindern, dass am Ende einige Antworten offen blieben.
Helgard Haugs Idee war es, Text und Handlung Brechts komplett auseinander zu nehmen. In wiederholten Proben wurde die Frage der Mutterschaft immer aus einem anderen Blickwinkel gestellt. Welche Person käme noch als Mutter in Frage? Ist Liebe oder Luxus wichtiger für ein Kind? Und letztlich auch, ob die Magd Grusche (hinreißend emotional Simone Gisler) das Kind aufgenommen hätte, wäre es krank gewesen und wenn ja, hätte die Frau des Gouverneurs (Tiziana Pagliaro) es dann überhaupt bekommen?
Die spannenden Fragen wurden letztlich nicht beantwortet. Stattdessen fand das Publikum Antworten auf persönliche Fragen an das Ensemble in Büchern, die für eine der "Proben" ausgeteilt wurden. Eine gute Viertelstunde hatte man Zeit, Familienfotos und persönliche Erzählungen zu begutachten, während Minhye Ko mit ihrem Schlagzeug- und Marimba-Spiel wie über den ganzen Abend für musikalische Atmosphäre sorgte. Diese Aktion war wohl gut gemeint, zerteilte den Abend allerdings unfreiwillig, da man die Bücher am Ende der Vorstellung wieder zurück geben musste und somit nur noch parallel zum Stück fertig lesen konnte, so man sich eingängiger mit den Biografien beschäftigen wollte. Auch wenn der Abend mit einem Beigeschmack des Unfertigen endete, das Publikum war von der Performance des gesamten Teams hellauf begeistert.
(S E R V I C E - Bertold Brecht: "Der Kaukasische Kreidekreis" in einer Fassung von Helgard Haug (Rimini Protokoll) mit dem Theater Hora. Konzept und Regie: Helgard Haug, Komposition: Barbara Morgenstern, Bühne: Laura Knüsel, Video/Licht/Kinetik: Marc Jungreithmeier. Auf der Bühne: Remo Beuggert Robin Gilly Simone Gisler Tiziana Pagliaro Simon Stuber, Minhye Ko (Live-Musik). Weitere Aufführungen: 14., 15., 16., 19., 20., 22. August. www.salzburgerfestspiele.at)
Zusammenfassung
- Anfangs glaubte nicht einmal die Regisseurin an das Gelingen der Produktion, doch letztlich siegte die Neugier.
- Helgard Haug hat zusammen mit dem Theater Hora Brechts "Kaukasischen Kreidekreis" auseinandergenommen und ihn neu befragt.
- Damit sorgten sie am Samstagabend für einen eindrücklichen Premierenabend in der Szene Salzburg.
- Helgard Haugs Idee war es, Text und Handlung Brechts komplett auseinander zu nehmen.