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"Briefe von Ruth": Ein Holocaustopfer als Musicalheldin

Heute, 04:16 · Lesedauer 4 min

Das Musical spielt im Viehwaggon. Einem kopfüber liegenden Zug, wie er einst Menschen nach Auschwitz zur Vergasung transportiert hat. Regisseur Philipp Moschitz und Bühnenbildner Matthias Engelmann wählen ein starkes Bild für "Briefe von Ruth", die am Montag in der Wiener Kammeroper ihre Zweitaufführung feierten. Es ist der scheinbar undenkbare Versuch, das reale Holocaustschicksal einer jungen Frau als Musical zu erzählen. Ein Versuch, der eindrucksvoll gelingt.

Als Basis für das 2023 beim Gmundner Musicalfrühling uraufgeführte Werk diente dem norwegischen Komponisten Gisle Kverndokk ein Konvolut an Tagebüchern und Briefen der jüdischen Wienerin Ruth Maier, die 1939 vor den Nazis in den Norden flüchten konnte, nach der Besetzung Norwegens jedoch 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Die Aufzeichnungen wurden 2007 in Norwegen unter dem Titel "Es wartet doch so viel auf mich ..." veröffentlicht und stammten aus dem Nachlass der Dichterin Gunvor Hofmo - Ruth Maiers großer Liebe in Norwegen.

Wiener Jugendjahre am Beginn

"Briefe von Ruth" beginnt jedoch im Wien der frühen 30er-Jahre. Ruth Maier ist ein Teenager, der zunächst ein hoffnungsvolles Leben in der Großstadt führt. Es geht um erste Schwärmereien, die kleinen Aufgeregtheiten des Lebens, Träume, Zudringlichkeiten älterer Herren. Schon früh hat die junge Ruth künstlerische Ambitionen, träumt davon, ein großes Werk zu hinterlassen, um dereinst nicht dem Vergessen anheimzufallen. Auf welch tragische Weise ihr dies mit den Tagebüchern gelingen sollte, davon ist zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede.

Diesem unbeschwerten Dasein setzt die nationalsozialistische Machtübernahme 1938 ein jähes Ende. Ruth gelingt 1939 zunächst die Flucht nach Norwegen, wo sie in der gleichaltrigen Gunvor Hofmo ihre große Liebe findet. Doch die Besetzung Norwegens durch Nazi-Deutschland bedeutet für diese Liebe das Ende und für Ruth den Tod.

Wechsel der Tonalitäten

Die Tonalitäten des Abends wechseln geschwind, bisweilen krass. Von der Dramatik des Verlusts kann es schnell zu lebensleichtem Dahinfliegen gehen. Ganz wie im Duktus des Tagebuchs eines jungen Menschen. "Briefe von Ruth" zeigt immer wieder klassische Musicalnummern in den glücklichen Phasen, die aber verlässlich von Dissonanzen, abstrakteren Passagen abgelöst werden. Und über weite Strecken ist "Briefe von Ruth" auch schlicht Sprechtheater, in dem die elektronisch verstärkten Schauspielenden wie beim Film von Soundtrackklängen untermalt werden.

Inszenierung in der Abstraktion

Regisseur Moschitz hält das Geschehen bei seinem Hausdebüt dabei ungeachtet der chronologischen Abfolge in der Abstraktion, was jedoch kein Ausweichen vor der bedrückenden Situation darstellt. Das Stück nimmt sein Sujet schlicht ernst, bleibt ehrlich, opfert nichts dem Effekt. Kleine Choreografien des sich stets in den Figuren wandelnden Ensembles reichen von einfachsten Mitteln wie einem Schirm bis hin zum Tanz in Zwangsjacken, wenn Ruth in die psychische Klinik eingeliefert wird.

Einzige Konstanten im Personaltableau sind Emily Mrosek als Ruth und Dorothea Maria Müller als Gunvor, die im Wiener Teil als Erzählerin fungiert, dann jedoch in die Rolle der Geliebten wechselt. Beiden gelingt, ihre Charaktere nahbar zu machen, ohne kitschig zu sein - womit sie den Grundcharakter der "Briefe von Ruth" widerspiegeln. Es ist die stimmige Variante, eine ebenso tragische wie vergessene Geschichte gefällig und damit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, ohne dabei in Schmalz oder Pathos zu verfallen. Und damit offenbart sie ein Werk, mit dem Ruth Maier nun tatsächlich das gelungen ist, von dem sie als Mädchen in Wien einst geträumt hatte: Über ihre Zeit hinaus erinnert zu werden.

(Von Martin Fichter-Wöß/APA)

(S E R V I C E - "Briefe von Ruth" von Gisle Kverndokk in der Kammeroper, Wien 1, Fleischmarkt 24. Musikalische Leitung: Herbert Pichler, Inszenierung: Philipp Moschitz, Bühne/Video: Matthias Engelmann, Kostüm: Claudio Pohle. Mit Ruth Maier - Emily Mrosek, Judith - Julia Bergen, Gunvor Hofmo - Dorothea Maria Müller, Mutter u.a. - Maaike Schuurmans, Hermann Thimig u.a. - Alen Hodzovic, Professor Williger u.a. - Reinwald Kranner. Weitere Aufführungen am 26. und 28. Februar sowie am 2., 5., 7., 9., 11., 14. und 16. März. www.theater-wien.at/de/spielplan/saison2024-25/1304/Briefe-von-Ruth)

Zusammenfassung
  • Das Musical 'Briefe von Ruth' basiert auf den Tagebüchern und Briefen der Jüdin Ruth Maier, die 1939 nach Norwegen floh und 1942 in Auschwitz ermordet wurde.
  • Die Inszenierung in der Wiener Kammeroper verwendet einen Viehwaggon als Bühnenbild und wechselt geschickt zwischen dramatischen und leichten Tonalitäten.
  • Emily Mrosek und Dorothea Maria Müller überzeugen in den Hauptrollen, während das Stück Ruth Maiers Geschichte einem breiten Publikum zugänglich macht.