Berg- und Talfahrt: Prossers Roman "Verschwinden in Lawinen"
Robert Prosser, 1983 in Alpbach geboren und heute dort und in Wien lebend, begann in der Slam- und Performanceszene. Mit "Wolfsvieh", einem Text über eine Schicksalsgemeinschaft ehemaliger Soldaten, gewann er 2010 den Literaturwettbewerb Floriana. Für seine "originelle und hochartifizielle Prosa" gewann er 2014 den Reinhard-Priessnitz-Preis. Mit seinem Roman "Phantome" über den Jugoslawienkrieg und dessen Fortwirken in der Gegenwart schaffte er es 2017 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. In dem in Syrien, Ghana und in einem Boxclub spielenden "Gemma Habibi" verband er Reisebericht, Sportreportage und Sozialkritik. Mit dem neuen Buch ist er vom großen deutschen Publikumsverlag Ullstein zum kleinen österreichischen Literaturverlag Jung und Jung gewechselt.
Eine Lawine verschüttet zwei junge Einheimische. Es sind Tina und Noah, die Nichte von Protagonist Xaver und ihr Freund. Während Tina geborgen werden kann und schwer verletzt ins Krankenhaus kommt, bleibt Noah vermisst. Prosser lässt sich aber nicht auf den aus der Katastrophenberichterstattung bekannten Wettlauf mit der Zeit ein, sondern verwendet für sein Buch eine ganz andere Dramaturgie, die bei der Lektüre zunächst irritiert. Denn eigentlich geht es um den in der Gastronomie beschäftigten Möchtegernschauspieler Xaver, seine Stellung im Dorf, sein Verhältnis zu seiner Schwester, der mit einem Bauunternehmer verheirateten Tierärztin Marlen, die das Elternhaus übernommen und umgebaut hat, aber auch um seine Mutter Anna.
Mit ihr schiebt sich eine zweite Zeit- und Motivebene über den in der erzählerischen Gegenwart zu Tal gedonnerten Schnee. Xaver erinnert sich an seinen Großvater, der vor Jahren einmal im Sommer auf demselben Berg vermisst wurde, an die Hilfe, die seine Mutter damals bei dem Einsiedler Mathoi suchte, dem heilende und seherische Kräfte nachgesagt wurden, und an die Umstände, unter denen der verunglückte Großvater schließlich in einer unzugänglichen Schlucht tot aufgefunden wurde.
Damals wie heute wurden unter den Ortsbewohnern Suchtrupps zusammengestellt, doch es gibt einen Unterschied: Mittlerweile, so erfährt man allmählich, hat sich auch Anna, die einst einen deutschen Urlauber geheiratet hat und später Alkoholprobleme bekam, in die Berge zurückgezogen. Eine freiwillige Abkehr vom Trubel im Tal, die an Felix Mitterers Stück "Märzengrund" erinnert, das im Vorjahr Adrian Goiginger eindrucksvoll auf die Leinwand brachte. Auch Prosser arbeitet mit Kontrasten und zeigt Gewinner und Verlierer, Macher und Außenseiter. Als Xaver in der Nacht mit einem Freund durchs Dorf fährt, zeigen sie einander die Häuser und Höfe früherer Schulfreundinnen: "Verlobt. Abgehauen. Ledig, mit zwei Kindern. Verheiratet." - "Hab gehört, dass die Scheidung ansteht."
Während die offiziellen Suchaktionen nach Noah immer hilfloser werden, beschließt Xaver, seine Mutter und Mathoi zu suchen. Wie damals beim Großvater wird der Einsiedler auch diesmal fündig. Noah hat überlebt. Doch noch ist das Buch nicht zu Ende. Auf den letzten 20 Seiten lässt Prosser "Verschwinden in Lawinen" so richtig Fahrt aufnehmen. Die Wucht des Geschehens reißt einen mit und entfaltet zerstörerische Kraft. Und trotz des vom Schauspielschüler Xaver einmal memorierten Tschechow-Merksatzes, wonach ein im erster Akt an der Wand hängendes Gewehr im letzten Akt abgefeuert werden müsse, haben weder eine selbst gebastelte Selbstmordmaschine noch der von Xaver mitgeführte Schlachtschussapparat "Blitzer" damit etwas zu tun. Ziemlich blutig wird es trotzdem.
(S E R V I C E - Robert Prosser: "Verschwinden in Lawinen", Jung & Jung, 192 Seiten, 22 Euro)
Zusammenfassung
- Der Tiroler Robert Prosser legt mit "Verschwinden in Lawinen" nun einen gänzlich anderen Ansatz vor.
- Mit dem neuen Buch ist er vom großen deutschen Publikumsverlag Ullstein zum kleinen österreichischen Literaturverlag Jung und Jung gewechselt.
- - "Hab gehört, dass die Scheidung ansteht."
- Noah hat überlebt. Doch noch ist das Buch nicht zu Ende.
- Auf den letzten 20 Seiten lässt Prosser "Verschwinden in Lawinen" so richtig Fahrt aufnehmen.