APA/ROLAND SCHLAGER

Autor Schlink: Wahl zum Gratisbuch ist "eine große Ehre"

"Der Vorleser" von Bernhard Schlink ist für die heurige 22. Ausgabe der Gratisbuch-Aktion "Eine Stadt. Ein Buch" auserkoren worden. 100.000 Exemplare des 1995 erschienenen, 2008 verfilmten Bestsellers werden ab Mittwoch in Wien verteilt. Zuvor sprach der in New York City und Berlin lebende 79-jährige Jurist und Autor mit der APA über sein Buch, seinen am 13. Dezember erscheinenden neuen Roman "Das späte Leben" sowie über Nationalismus, Demokratiegefährdung und Klimapolitik.

APA: Herr Schlink, lässt sich ein Bestsellerautor wie Sie noch von einer Auflage von 100.000 Stück beeindrucken?

Bernhard Schlink: Er freut sich. Dass die Stadt Wien in diesem Jahr mein Buch ausgewählt hat, ist eine große Ehre und eine große Freude.

APA: Diese 100.000 Stück werden verschenkt. Haben Sie in etwa eine Ahnung, wie viele Exemplare von "Der Vorleser" verkauft wurden?

Schlink: Nein. Ich weiß nur, dass das Buch in 56 Sprachen übersetzt wurde, kürzlich ins Färöische.

APA: Die Aktion "Eine Stadt. Ein Buch" wurde gestartet, um Menschen zum Lesen zu animieren. Ist der Preis noch immer ein Hemmnis, das Menschen vom Lesen abhält?

Schlink: Das Geschenk eines Buchs ist eine Einladung, es zu lesen. Vor vielen Jahren hat die Deutsche Bahn in den Zügen ein Reclamheft mit Rilke-Gedichten verteilt. Ich habe es seitdem in der Tasche meines Mantels und lese immer wieder darin. Ohne das Geschenk der Deutschen Bahn täte ich das nicht.

APA: Wie sind Sie selbst zum Lesen gekommen?

Schlink: Als ich klein war, wurde vorgelesen und gelesen. Es gab bei uns zu Hause keine Computerspiele, keinen Fernseher, lange nicht einmal ein Radio. Meine ältere Schwester hat mir vorgelesen. Sie und ihre Freunde und Freundinnen lasen auch Stücke mit verteilten Rollen, und ich erinnere mich, wie ich dabeisaß und zuhörte. Und wir haben viel Musik gemacht.

APA: Das Vorlesen wird aber immer weniger gepflogen.

Schlink: Dabei ist es so wichtig. Mein Sohn wurde wohl auch deshalb ein Leser, weil ich ihm vorgelesen habe. Er wiederum hat seinen Töchtern vorgelesen. So sind sie ganz selbstverständlich ins Lesen hineingewachsen.

APA: Wie ist die Wiederbegegnung mit Ihrem 1995 erschienenen Buch?

Schlink: Als ich es geschrieben habe, dachte ich, es ist ein durch und durch deutsches Buch. Der internationale Erfolg hat mich überrascht und beglückt. Das internationale Interesse richtete sich nicht nur darauf, wie junge Deutsche ihre Elterngeneration, die Kriegsgeneration sehen und wie sie sich zu deren nationalsozialistischer Vergangenheit verhalten. Es galt auch der allgemeinen Frage, was es für uns bedeutet, wenn jemand, den wir lieben, etwas Furchtbares begangen hat. Die Liebe hört nicht einfach auf, zugleich ist da das Entsetzen - wie geht man mit dieser Spannung um? Dass mein Buch mit beidem so viele erreicht hat, freut mich nach wie vor.

APA: Dennoch ist natürlich die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ein wichtiges Thema im Buch. In ihrem bisher letzten Buch, "Die Enkelin", ging es um Ost- und Westdeutschland, vor allem aber um das Wiedererstarken des Nationalismus. Wie sehr beschäftigt Sie, dass diese Dinge offenbar unausrottbar sind?

Schlink: Es beschäftigt mich, seit Ost- und Westdeutschland zusammenwachsen und sich mit dem Zusammenwachsen schwer tun. Dabei erstarkte der Nationalismus zunächst im Osten und inzwischen auch im Westen. Dass das Erstarken des Nationalismus und die Sehnsucht nach dem Autoritären ein europäisches Phänomen sind, ist so recht kein Trost. Es zeigt aber, dass, wenn es schwierig wird, die Suche nach nahen, scheinbar einfachen Lösungen übermächtig wird. Das Nahe ist die Nation, das Autoritäre verspricht Einfachheit. Beides hat eine große, verführerische Kraft.

APA: Wie sehr beurteilen Sie als Jurist diese Gefahr aus rechtlicher Perspektive? Viele sagen, dass man unsere Demokratie nicht als gegeben hinnehmen sollte, sondern sie ständig zu verteidigen hat.

Schlink: Wir dürfen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat in der Tat nicht als Selbstverständlichkeit nehmen, sondern müssen uns für sie einsetzen. Wie leben in einer Zeit, die meint, für die großen Probleme die Lösung im Moralisieren zu finden. Dabei gerät in Vergessenheit, wie wichtig es ist, die Institutionen zu stützen. Wenn sie erodieren, ist der Einzelne mit seiner Moral alleine und hilflos und kann nichts bewirken. Wir müssen nur nach Ungarn und nach Polen gucken. Die Wahl in Polen war zwar ein schönes, das einzig schöne politische Ereignis der vergangenen Monate. Aber wir haben davor gesehen und sehen in Ungarn weiter, wie leicht eine freiheitliche demokratische Rechtsordnung untergraben und massiv verändert werden kann. Umzukehren, wenn es zu weit nach rechts gegangen ist, ist viel schwieriger als zu verhindern, dass es zu weit nach rechts geht.

APA: Sie leben auch in den USA - da steht ein bedrückender Wahlkampf bevor. Was, wenn es zu einer zweiten Präsidentschaft von Donald Trump kommen sollte?

Schlink: Eine zweite Ära Trump wird die USA zerstörerischer verändern als die erste. Wenn Trump noch einmal Präsident wird, wird er in die demokratische Ordnung, in Militär und Verwaltung rücksichtslos und nachhaltig eingreifen. Davor haben wir ebenso viel Grund, Angst zu haben, wie die Amerikaner.

APA: Wie stehen Sie zu den Versuchen, die Verantwortung der Politik angesichts der Klimakatastrophe einzuklagen?

Schlink: Es gibt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die dem Gesetzgeber verwehrte, klimarelevante Werte so anzusetzen, dass wir jetzt Lebenden ihnen noch mühelos genügen, aber die nach uns Lebenden es nur unter großen Opfern können. Wie das Bundesverfassungsgericht das in dieser Entscheidung getan hat, kann ein Verfassungsgericht hie und da ein Gesetz, das in die falsche Richtung geht, für verfassungswidrig erklären. Aber es kann keine Klimapolitik en detail vorgeben. Der Schutz von Natur und Umwelt steht in der Verfassung. Aber das sind Aufträge, die der Gesetzgeber erfüllen muss.

APA: Ihr im Dezember erscheinende Roman "Das späte Leben" beschäftigt sich stark mit der Frage: Was hinterlasse ich der nächsten Generation? Das wird aber sehr auf zwei konkrete Personen bezogen, einen 76-jährigen Vater und seinen sechsjährigen Sohn. Die Frage, was wir der folgenden Generation hinterlassen, inklusive der Schuldfrage für den heutigen Zustand der Welt, wird dabei ausgeklammert.

Schlink: Ich halte die Frage für unbeantwortbar und für müßig. Wir haben so schlecht und so recht gelebt, wie wir konnten. Als wir uns der Auswirkungen unseres Verhaltens auf die nächsten Generationen bewusst wurden, haben wir zwischen dem, was wir uns bewahren wollen, und dem, was wir verändern müssen, Kompromisse gesucht. Mehr werden auch die künftigen Generationen nicht tun. Kompromisse können besser und schlechter sein, und gewiss müssen wir uns um bessere bemühen. Aber immer sind sie halbherzig, fragwürdig, unbefriedigend. Entschiedenheit gibt es nur, wenn eine Gefahr unmittelbar droht. Nein, mich hat nicht diese große, sondern die kleine Frage interessiert, ob und was wir denen, die uns nahestehen, hinterlassen können.

APA: Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob in "Das späte Leben" jene Fragen formuliert sind, die sich der Autor in seinem Lebensalter derzeit stellt. Ist das so?

Schlink: Ich bin in allem, was ich schreibe, mit dem drinnen, was mich gerade beschäftigt. Nicht, dass ich über mich schreiben würde. Aber die Geschichten, die zu mir kommen, enthalten Themen, Stoffe, Fragen, die für mich zu der Zeit, zu der die Geschichten zu mir kommen, wichtig sind. Was es damit, anderen etwas zu hinterlassen, auf sich hat, was es mit dem Festhalten und dem Loslassen in der Liebe auf sich hat - das waren für mich schon immer Themen. Sie stellen sich im Alter nur noch einmal ein bisschen anders.

APA: Ein weiteres Thema des Buches ist: Wahrheit oder Lüge? Will ich wissen, ob ich betrogen werde? Hat sich das ergeben oder haben Sie das bewusst eingebaut?

Schlink: Ich baue nie bewusst Themen ein, sondern sie stecken in den Geschichten. Was mich schon lange beschäftigt, ist: Wie gehen wir mit Lebenslügen um? Vermutlich haben wir alle irgendeinen Freund, der denkt, er sei in Wahrheit dieses oder jenes - und wir alle wissen, dass er es nicht ist. Ist es Freundespflicht, ihn aufzuklären, oder bin ich sein Freund, indem ich es freundlich begleite?

APA: Wie entscheiden Sie bei Ihren Freunden? Situationsabhängig oder prinzipiell?

Schlink (lächelt): Ich begleite eher freundlich.

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Bernhard Schlink: "Der Vorleser", 216 Seiten, Gratisbuch im echomedia buchverlag; Gala heute, Dienstag, 19 Uhr, im Wiener Rathaus, nur mit Einladung. Termine am Mittwoch: 9.30 Uhr: Stadtkino: Schüler-Vorführung von Stephen Daldrys Verfilmung, anschließend Diskussion mit Schlink; 18.30 Uhr, Urania, Dachgeschoß: Podiumsdiskussion mit Schlink. www.eineSTADTeinBUCH.at)

ribbon Zusammenfassung
  • 100.000 Exemplare des 1995 erschienenen, 2008 verfilmten Bestsellers werden ab Mittwoch in Wien verteilt.
  • Zuvor sprach der in New York City und Berlin lebende 79-jährige Jurist und Autor mit der APA über sein Buch, seinen am 13. Dezember erscheinenden neuen Roman "Das späte Leben" sowie über Nationalismus, Demokratiegefährdung und Klimapolitik.