Zehntausende Tote nach Flutkatastrophe in Darna befürchtet
Im Katastrophengebiet leben nach Einschätzung des UNO-Nothilfebüros (OCHA) 884.000 Menschen. Mindestens 250.000 von ihnen seien dringend auf Hilfe angewiesen, teilte das Büro am Donnerstag in Genf mit. Dafür seien umgehend 71,4 Millionen Dollar (rund 67 Mio. Euro) Soforthilfe nötig, um die Menschen drei Monate lang zu unterstützen. OCHA appellierte an Regierungen in aller Welt, zügig Geld zur Verfügung zu stellen. Um die Einsätze zu starten, hat OCHA-Chef Martin Griffiths eine erste Tranche von zehn Millionen Dollar (9,32 Mio. Euro) aus einem Notfalltopf freigegeben.
Die vom Unwetter am Wochenende am schwersten getroffene Hafenstadt Darna sei nach Auswertung von Satellitenbildern womöglich zu einem Drittel zerstört worden, berichtete OCHA. Mehr als 2.200 Gebäude dürften durch die Überschwemmungen zerstört oder in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Weil viele Straßen zerstört sind, hätten die örtlichen Behörden dafür plädiert, eine Seebrücke für die Anlieferung von Hilfe und die Evakuierung von Verletzten einzurichten. In einigen Regionen warteten Anrainer immer noch auf Häuserdächern auf Rettung.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) rechnet mit einem langen Erholungsprozess. "Es wird viele Monate, vielleicht Jahre dauern, bis die Anrainer sich von diesem riesigen Ausmaß an Zerstörung erholt haben", meinte Yann Fridez, Leiter der Libyen-Delegation beim IKRK, am Donnerstag. "Diese Katastrophe war heftig und brutal. Eine sieben Meter hohe Welle zerstörte Gebäude und spülte Infrastruktur ins Meer", sagte Fridez zu den Ereignissen in der besonders stark betroffenen Hafenstadt Darna. Jetzt würden Familienangehörige vermisst und "Leichen zurück ans Land gespült". Darna stehe vor einem "enormen seelischen Trauma".
Nahe Darna brachen zwei Dämme, ganze Viertel der 100.000 Einwohner zählenden Stadt wurden ins Meer gespült. Rettungsteams suchten auch Tage nach dem Unglück weiter in den Trümmern nach Überlebenden. Doch die Hoffnung, Menschen lebend zu finden, schwindet von Stunde zu Stunde. Opfer wurden in Leichensäcken in Massengräbern verscharrt. Allein in Darna sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 30.000 Menschen obdachlos geworden. 10.000 Menschen gelten seit Montag als vermisst, wie viele davon seither tot oder lebend gefunden wurden, ist unklar. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte: "Ganze Wohnviertel sind von der Karte verschwunden." Die Lage sei "schockierend und herzzerreißend".
Augenzeugen berichteten, Darna sei noch immer "voller Leichen". Hilfe werde dringend benötigt. Insbesondere der Osten der Stadt sei weiter vom Rest abgeschnitten. Kommunikationsverbindungen seien teilweise komplett abgerissen. Ein libyscher Arzt, der in einer Klinik nahe Darna arbeitet, sagte dem britischen Sender BBC: "Wir brauchen einfach Leute, die die Situation verstehen - logistische Hilfe, Hunde, die Menschen riechen können und sie aus dem Boden holen. Wir brauchen einfach humanitäre Hilfe, Leute, die wirklich wissen, was sie tun."
Zahlreiche Länder haben Hilfe angeboten. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen kündigten die Ankunft eines Notfallteams an. Es bestehe aus Logistikern und medizinischem Personal. Man bringe zudem Notfallausrüstung mit zur Behandlung von Verletzten und Leichensäcke für Libyens Wohlfahrtsorganisation Roter Halbmond. Weitere Hilfe kommt unter anderem aus den Nachbarländern Ägypten, Tunesien und Algerien sowie der Türkei. Auch Frankreich, Niederlande und Italien boten Unterstützung an.
Beobachter geben den Behörden Mitschuld am Ausmaß der Katastrophe in dem Bürgerkriegsland. Dies zeige auch die Tatsache, wie schwierig sich die Lage für Rettungsteams und Journalisten an Ort und Stelle gestalte, schreibt Libyen-Experte Wolfram Lacher auf der Plattform X (früher Twitter).
Seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 ringen zahlreiche Konfliktparteien um Einfluss. Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen - eine mit Sitz im Osten, die andere mit Sitz im Westen - um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg friedlich beizulegen, scheiterten bisher. Infrastrukturmaßnahmen wurden jahrzehntelang verschleppt.
Beobachter befürchten auch, dass sich die Wut über die Katastrophe auf den Straßen entladen könnte. "Der Schock, der in den kommenden Wochen in offene Wut umschlagen könnte, ähnelt dem, was die Aufstände Anfang 2011 auslöste", schreibt der Experte Jalel Harchaoui auf X.
Der Generalsekretär der Weltwetterorganisation, Petteri Taalas, sieht die Opferzahlen auch im Fehlen eines funktionierenden Frühwarnsystems begründet. Wenn ein Wetterdienst vor dem herannahenden Unwetter gewarnt hätte, hätten Rettungsdienste Evakuierungen vornehmen können, sagte Taalas. "Wir hätten die meisten der Opfer vermeiden können."
Zusammenfassung
- Nach den Überschwemmungen in Libyen könnte die Zahl der Toten noch dramatisch steigen.
- Im Katastrophengebiet leben nach Einschätzung des UNO-Nothilfebüros (OCHA) 884.000 Menschen.
- Die vom Unwetter am Wochenende am schwersten getroffene Hafenstadt Darna sei nach Auswertung von Satellitenbildern womöglich zu einem Drittel zerstört worden, berichtete OCHA.
- Hilfe werde dringend benötigt.
- Insbesondere der Osten der Stadt sei weiter vom Rest abgeschnitten.