Attentäter von Wien: "Kein einsamer Wolf"
Es liest sich wie das Skript eines billigen Agentenfilms. 58 dicht beschriebene Seiten mit dutzenden kurzen Einträgen und Fotos aus Überwachungskameras. Bilder, die zwei junge Männer am Wiener Flughafen-Parkplatz K3 zeigen, wie sie sich zum islamischen Gebet niederknien, wie sie von einer Gruppe junger Männer abgeholt und nach Wien gebracht werden.
Wie die Männer die Wiener Wohnung eines verurteilten Terroristen betreten, wie zwei weitere Besucher aus dem Ausland schwarze Taschen in diese Wohnung tragen, oder wie einige der Männer im Wiener Prater Kickboxen üben und wie die Gruppe gemeinsam eine radikal islamistische bekannte Moscheen in Wien besuchen.
Der Bericht ist das komplette Überwachungsprotokoll der mittlerweile als "Islamistentreffen" bekannten Zusammenkunft von deutschen, schweizerischen und österreichischen Extremisten Anfang Juli 2020. Alle Personen waren den Behörden bekannt, sind zum Teil auch im Gefängnis gesessen, waren als radikale Islamisten eingestuft. Fünf Tage lang wurde das Treffen vom heimischen Nachrichtendienst überwacht.
Zentrale Figur: der spätere Attentäter, der knapp vier Monate nach diesem Treffen am 2. November des Vorjahres in der Wiener Innenstadt bei einem islamistisch motivierten Terroranschlag vier Menschen tötete und zahlreiche Personen schwer verletzte. Jede Minute, jede Bewegung und jede Aktion – von der Ankunft bis hin zur Abreise der Besucher aus dem Ausland – wurde vom BVT über Tage aufgezeichnet und minutiös protokolliert. Mehrere Beamte des BVT waren dabei für die Überwachung abgestellt.
Wiener Islamistentreffen
Das Treffen der Islamisten, aber auch die Observation ist bereits wenige Tage nach dem Attentat der Öffentlichkeit bekannt geworden. Das BVT musste zugeben, dass der spätere Attentäter und weitere Islamisten im Fokus einer tagelangen Überwachung standen. Die österreichischen Behörden waren Anfang Sommer 2020 von Kollegen aus Deutschland gewarnt worden, dass zwei mutmaßliche Islamisten auf dem Weg nach Wien seien.
Nach SPIEGEL-Informationen hatten die deutschen Ermittler eigentlich damit gerechnet, dass die beiden einen als Gefährder eingestuften Islamisten aus Norddeutschland besuchen wollten, der seit Jänner 2020 in Wien seinen Aufenthalt hatte. Das BVT schickte ein Observationsteam an den Flughafen – und stellte fest, dass die beiden Wien-Besucher vom späteren Attentäter abgeholt wurden. Um ein mögliches "innereuropäisches Netzwerk" von Extremisten mit "Bezügen zum IS" zu beobachten, blieben die Ermittler über Tage an der Gruppe dran.
Observation mit neuen Fakten
Wie umfangreich die Observationen durchgeführt wurden, war bis dato allerdings unbekannt. PULS 24 liegen rund 2.000 Seiten Akten der Terrorermittlungen vor. Der komplette Überwachungsbericht zeigt dabei neue Aspekte und Versäumnisse der Behörden.
Vier Monate nach dem Attentat laufen die Ermittlungen der Behörden immer noch auf Hochtouren. Die wichtigsten Fragen rund um den Anschlag in der Wiener Innenstadt sind immer noch offen. Die Ermittler versuchen unter Hochdruck zu klären, ob es Mitwisser, Auftraggeber oder Hintermänner gab und ob es noch zu weiteren Attentaten in der Schweiz oder in Deutschland kommen hätte sollen. Ungeklärt ist offenbar immer noch, woher der Terrorist Waffen und Munition bezog. Das BVT, aber auch die Staatsanwaltschaft, halten Ermittlungszwischenstände unter Verschluss, hüllen sich auf Anfragen in Schweigen.
Kein einsamer Wolf
Insider aus dem BVT zweifeln aber immer mehr, wie schon auch deutsche und schweizerische Behörden, an der Theorie des "einsamen Wolfs", also dass der Attentäter seine Tat alleine geplant und durchgeführt hat. "Es muss zumindest Mitwisser geben, das bezeugen auch die vielen Treffen und Kontakte zu einschlägig bekannten Islamisten, die er Monate und Wochen vor dem Attentat hatte", sagt ein Beamter des BVT, der lieber anonym bleiben möchte. Unbestritten dürfte nur die Tatsache sein, dass am Anschlag kein weiterer Attentäter beteiligt gewesen sein soll. Das belegt die Auswertung von tausenden Handyvideos und Aufnahmen aus Überwachungskameras.
Die Observation wirft freilich noch weitere Fragen auf. So ist nicht nachvollziehbar, warum der spätere Attentäter nach diesem Treffen zu den Besuchern aus Deutschland und der Schweiz, die auch bei ihm übernachtet haben, nicht befragt worden ist. Der verurteilte Terrorist war auf Bewährung vorzeitig entlassen worden, stand unter Beobachtung, musste sich einem Deradikalisierungsprogramm unterziehen. Der Attentäter wirkte auf den Fotos mit den Besuchern aus dem Ausland vertraut, er kannte sie offenbar schon länger.
Warnungen aus dem Ausland
Die beiden Deutschen, ein damals 19-Jähriger aus Osnabrück und ein 25-Jähriger aus Kassel, wurden von den deutschen Sicherheitsbehörden vor längerer Zeit als Islamisten eingestuft. Einer von ihnen soll Teil einer Chatgruppe gewesen sein, in der IS-Propaganda verbreitet wurde. Der andere stand im Verdacht, sich dem IS in Syrien anschließen zu wollen. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt. Nach dem Attentat kam es in Deutschland zu Hausdurchsuchungen, die deutschen Islamisten gelten offiziell aber nicht als verdächtig, sondern werden als Zeugen geführt.
Im Gegensatz zu den beiden Schweizern: Diese wurden direkt nach dem Attentat in ihrer Heimat in U-Haft genommen. Beide Islamisten waren schon in Strafverfahren verwickelt gewesen. Dem Älteren warf die Staatsanwaltschaft vor, zusammen mit anderen Islamisten im Jahr 2016 in einer Moschee in Winterthur zwei Männer festgehalten und bedroht zu haben. Sie sahen in ihnen Spione, die Informationen aus der Moschee an einen Journalisten weitergeleitet hätten. Er wurde im Gegensatz zu anderen Personen aber freigesprochen. Der zweite Besucher in Wien wurde in der Schweiz wegen Terrorismusunterstützung angeklagt, 2018 aber freigesprochen. Die Behörden verdächtigen beide, mit der Terrorattacke in Wien direkt zu tun gehabt zu haben. Gegen sie wird wegen "strafbarer Vorbereitungshandlungen zu Mord und wegen Gehilfenschaft zu Mord ermittelt", schreibt die NZZ unter Berufung auf die Schweizer Bundesstaatsanwaltschaft. Für alle genannten Personen gilt die Unschuldsvermutung.
Beim Wiener Treffen waren auch mehrere in der Islamistenszene verankerte, in Österreich lebende und den Behörden bekannte Personen anwesend. Mehrere sitzen gegenwärtig immer noch in U-Haft. Auch sie stehen im dringenden Verdacht, durch Unterstützung des Attentäters im Vorfeld des Anschlags einen Beitrag zu den Verbrechen des Mordes, der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und einer kriminellen Organisation geleistet zu haben.
Fremde DNA an den Waffen
Einer der Verdächtigen, der als religiöser und ideologischer Hardliner beschrieben wird und bei dem über die Jahre eine Radikalisierung festgestellt werden konnte, saß 2017 kurzzeitig im Gefängnis. Den Attentäter traf er noch am Samstag vor dem Anschlag in einer Moschee im 21. Bezirk. Vom Anschlag will er nichts gewusst haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Auch ein zweiter Verdächtiger bestreitet eine Mitwisserschaft. Er traf den Attentäter sogar noch am Tag des Anschlags. Er gilt ebenfalls als radikalisiert und kommt aus dem Bereich der extremistischen politischen Salafiyya. Er wollte dem Attentäter ein Buch, das sich mit den Grundlagen des Islams beschäftigt, zurückbringen, gab er bei seiner Einvernahme an. Im Einvernahmeprotokoll führte der Verdächtige an, dass ihn der Attentäter am 2. November nicht in seine Wohnung lassen wollte, um gemeinsam das Gebet zu verrichten. Darüber sei er sehr verärgert gewesen. Das Buch habe er dann im Stiegenhaus übergeben. Für den Abend des Attentats selbst hat er Zeugen, die belegen können, dass er nicht in der Innenstadt war. Auch für ihn gilt die Unschuldsvermutung.
Kurz vor Weihnachten wurden zwei weitere Männer verhaftet, denen vorgeworfen wird, sie hätten den Attentäter unterstützt. Beide waren aber offenbar beim Treffen in Wien nicht dabei. Von den beiden Männern, aber auch von zwei Frauen fanden die Ermittler DNA-Spuren auf den Waffen, die der Attentäter während der Tat bei sich trug. Bereits zugeordnet wurden die genetischen Abdrücke dreier Personen auf der Kalaschnikow, der Faustfeuerwaffe, der Machete und der Sprengstoffgürtel-Attrappe. Über weitere Ermittlungsergebnisse ist derzeit nichts bekannt.
Observation ohne Abhörmaßnahmen
Fakt ist: In der Bewertung des BVT hätten alleine schon die Teilnehmer des Treffens in Wien vom vergangenen Juli mit ihrer Vita für die Ermittler genug Anhaltspunkte für eine Meldung an die Justiz gegeben. Eigentlich hätten im gesamten BVT die Alarmglocken schrillen müssen. Aufgrund seiner Bewährungsauflagen hätte man den späteren Attentäter wegen seiner erneuten Kontakte zu Extremisten wieder aus dem Verkehr ziehen können – oder sogar müssen.
Ungeklärt ist auch, warum beim Treffen mit dem ausländischen Besuch keine Handyüberwachung angeordnet worden ist. Die Beamten des Verfassungsschutzes beobachteten die Gruppe nur aus der Ferne. Offenbar wurde auf Abhörmaßnahmen aus formaljuristischen Gründen verzichtet. Es gab aber mehrere Handlungen beim Wiener Treffen, die auch für Laien als höchst verdächtig einzustufen sind. Es wurden Taschen von den schweizerischen Verdächtigen in die Wohnung des Attentäters gebracht, es wurde ein schwarzer Gegenstand aus dem Auto eines der Verdächtigen im Hof des Wohnhauses übergeben. Die Gruppe beging auch mehrere Verwaltungsübertretungen. In einem Tunnel wurde fast ein Auffahrunfall provoziert. Mehrmals fuhren die beiden Zielfahrzeuge, das Auto eines Wiener Verdächtigen und das Fahrzeug des Schweizer Besuchs, bei Rot über die Ampel, wechselten unerlaubt die Spur. Als hätten sie Angst gehabt, dass sie verfolgt werden. Tatsächlich verloren die Ermittler die Zielpersonen mehrmals aus den Augen und konnte sie zum Teil über Stunden nicht mehr überwachen.
Eine der zentralen Fragen, die sich die Behörden stellen müssen, ist, warum die Überwachung nach Abreise der Islamisten aus Deutschland und der Schweiz einfach eingestellt worden ist. Der spätere Attentäter fuhr direkt am nächsten Tag mit einem weiteren Verdächtigen in die Slowakei. Dort versuchte er, explizit Munition für eine AK-47 zu kaufen – der Terrorist musste also bereits wissen, welche Waffe er bekommen wird oder schon in Besitz hatte. Dass auch dieser Besuch inklusive einer Meldung der slowakischen an die österreichischen Behörden keine Konsequenzen nach sich zog, ist hinlänglich dokumentiert.
Bericht ohne Bedeutung
Was mit dem Observationsbericht innerhalb des BVT geschah, dürfte gegenwärtig immer noch Teil der internen Ermittlungen sein. Offenbar gab es zur Observation keine Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen, oder dem Bericht wurde augenscheinlich keine Bedeutung zugemessen bzw. die Weitergabe wurde einfach verschlampt. Auf eine ausführliche Auswertung und Lageanalyse verzichtete das BVT. Zu dieser Erkenntnis kam auch die eigens eingerichtete Untersuchungskommission zum Terroranschlag. Im Abschlussbericht, der Anfang Februar erschienen ist, wird dem BVT ein katastrophales Zeugnis ausgestellt. Neben zahlreicher anderer Fehler sind fatale Versäumnisse bei der Datenverarbeitung und beim Informationsfluss passiert. Die Ergebnisse der Observation wurden den Behörden in Deutschland und der Schweiz aber in einem Kurzbericht übermittelt.
Lose Zelle oder Netzwerk?
Die Überwachung zeigt freilich ein viel bedrohlicheres Bild. Das BVT war vor einem Jahr offenbar nicht in der Lage, eine Risikobewertung des Täters vorzunehmen. Der spätere Attentäter konnte sich ohne Konsequenzen mit amtsbekannten Extremisten treffen. Die Ermittlungsakten aber auch der komplette Obseravationsbericht bestätigen den Verdacht, dass der Attentäter zumindest Teil "einer international agierenden und strukturierten Terrorzelle" gewesen sein könnte, wie es auch im Zwischenbericht der Untersuchungskommission zum Terroranschlag festgehalten ist. Zumindest aber dürfte er Mitglied eines losen islamistisches Netzwerks gewesen sein, das möglicherweise bei der Vorbereitung der Attentatspläne eine wesentliche Rolle eingenommen hat.
Dass er völlig alleine ohne Mitwisser seine Tat vorbereitete, dürfte mittlerweile ausgeschlossen sein.
Opfer-Anwalt: "Wenn uns ein Prozess aufgezwungen wird, werden wir ihn führen"
Karl Newole, Anwalt der Angehörigen der Terroropfer, betont, dass die Angehörigen keinen Prozess anstreben, wenn ihnen dieser von der Republik aufgezwungen werde, werde man ihn auch führen.
Zusammenfassung
- Vier Monate nach dem Terroranschlag in Wien läuft immer noch die Suche nach möglichen Hintermännern. Die Einzeltätertheorie wird dabei immer mehr in Frage gestellt.