505-Graffiti in WienPULS 24

"505" vs. Tschetschenen: "Die haben uns halb totgeschlagen"

Syrer, die sich als "505/515er" verstehen und Tschetschenen alias "Ches" lieferten sich in den vergangenen Tagen mehrere heftige Kämpfe auf Wiens Straßen. Der Konflikt forderte Schwerverletzte auf beiden Seiten. PULS 24 hat mit den Opfern gesprochen und die Ursachen für den Konflikt gesucht.

Sofort fällt die große Narbe am Hals von Schamil Mowsurow auf. Noch immer bewegt sich der 30-Jährige zögerlich und bedacht. Aber er ist noch am Leben.

Sicher war das nicht immer. In der Nacht auf 3. Juni landete er nach Messerschnitten und -stichen im Arthaberpark in Wien-Favoriten im Krankenhaus. "Ich habe gedacht, es geht sich nie im Leben aus - also ich habe schon akzeptiert, dass es aus ist", sagt er heute über die Szenen im Park. 

Der Austro-Tschetschene spricht von einem Hinterhalt, in den er geraten sei. Eigentlich sei er für eine Aussprache in den Park gekommen. Er kassierte dann aber acht Messerstiche - in den Bauch, in den Hals und in die Beine. Danach befand er sich in akuter Lebensgefahr, war zwei Wochen im Spital, konnte anfangs kaum gehen. Seine Verdauung funktionierte nicht mehr. Der Täter wurde nie gefasst.

Reportage: Bandenkämpfe auf Wiens Straßen

Viel ist derzeit von "Bandenkriegen" oder "Clan-Konflikten" auf Wiens Straßen zu lesen. Die Begriffe werden der Realität nicht ganz gerecht. Es sind eher lose Gruppierungen - auf der einen Seite mit tschetschenischer und teils türkischer, auf der anderen Seite mit syrischer und teils afghanischer Migrationsgeschichte, die aufeinander losgehen. Unter dem Titel "Che" vs. "505" wird der Konflikt in den sozialen Medien kommentiert und angestachelt. "505" steht dabei für einen Familienstamm aus Syrien.

In den vergangenen Wochen erreichten die Streitereien ihre bisher blutigsten Höhepunkte. Am 5. Juli gingen junge Männer im Anton-Kummerer-Park in der Brigittenau mit Holzlatten, Pfefferspray, Messern und auch Schusswaffen aufeinander los. Die Folge: drei Schwerverletzte. Anrainer:innen sind verschreckt, ihre Autos teils mit Einschusslöchern überzogen.

Einschussloch beim Anton-Kummerer-ParkLPD Wien / PULS 24

Einschussloch beim Anton-Kummerer-Park

Nur zwei Tage davor, Nachbar:innen des Meidlinger Bahnhofs erinnern sich an den Lärm der Polizeihubschrauber, kam es im zwölften Bezirk zum Showdown. Vermummte Tschetschenen hatten eine Gruppe junger Afghanen mit Messern und Schlagstöcken attackiert. Vier Schwerverletzte blieben liegen.

Kein klarer Auslöser

PULS 24 hat sich auf die Suche nach Ursprung des Konflikts gemacht und mehrere involvierte Jugendliche auf beiden Seiten getroffen. Woher die Gewalt so plötzlich kommt, scheint aber selbst den mutmaßlichen Tätern oder Opfern oft nicht ganz klar zu sein.

Fest steht: Es geht wohl um so etwas wie Ehre, um Revierstreitigkeiten, Identitätsstiftung, fehlendes Vertrauen in die Behörden, fehlende Beschäftigung - und fehlende Kompetenz im Umgang mit den sozialen Medien.

Shamil MowsurowPULS 24

Shamil Mowsurow

Die Polizei vermutet den Ursprung der Gewalt unter anderem in Schamil Mowsurows Fall. Er selbst meint, der Angriff gegen ihn sei nur einer der Gründe gewesen, warum es nun zu regelrechten Straßenschlachten kam. 

Der 30-Jährige lebt seit 10 Jahren in Österreich, fühlt sich hier aber nur als "Gast", wie er meint. Das werde sich auch nie ändern. Vor allem versteht er sich eben doch als Tschetschene.

Wie ein Schlägertyp oder ein Gang-Mitglied sieht er nicht aus. So etwas wie eine "Bande" gebe es nicht, sagt er selbst. Er trägt Hemd, Gilet, Lackschuhe und Siegelring mit tschetschenischem Wappen. In seiner Freizeit betreibt er japanischen Schwertkampf. Wenn es um die "Ehre" der Tschetschenen oder der Familie geht, ist er aber durchaus bereit, die Fäuste sprechen zu lassen, sagt er im PULS 24 Interview ganz offen.

Aus Aussprache wird Hinterhalt

Im Arthaberpark sei es damals um eine Aussprache nach einem Vorfall mit dem Bruder eines Freunds, ebenfalls Austro-Tschetschene, gegangen. Der jüngere Bruder sei schon vor zwei Jahren in eine Schlägerei mit jungen "Arabern" verwickelt gewesen, so die Erzählung. Nun sei der Bruder von älteren "Arabern" gesucht worden - zu dieser Aussprache wollte man gehen und sei in den "Hinterhalt" geraten. 

"Das sind Menschen, die trauen sich nicht irgendwo zu treffen, zu kämpfen", sagt Schamil Mowsurow. "Auch wenn die irgendwo eine Gruppe Tschetschenen sehen, verstecken die sich und genau das führt zur Eskalation". Die anderen würden sich nur "zu zehnt, mit Messer" trauen. 

In Parks und auf der Straße würden sogenannte "505er" - also Menschen mit syrischer Migrationsgeschichte - nach Tschetschenen suchen und auch Menschen ansprechen, die sie für Tschetschenen halten, selbst Mädchen. Den Behörden müsse bewusst sein, dass man in so einer Situation versuche, das selbst zu regeln, meint Mowsurow. Er habe "gehört", dass nun Tschetschenen patrouillieren würden, um Mädchen sicher von der Schule abzuholen. 

Was ist "505" oder "515"?

Doch: Es gibt in dem Konflikt nicht die Guten und die Bösen. Die Erzählungen auf der anderen Seite klingen ganz ähnlich. Am Wiener Praterstern trafen sich mehrere sogenannte "505er" mit PULS 24. Sie zu finden ist nicht schwer. Auf TikTok, Telegram und Instagram posieren seit Längerem unter den Hashtags "505" oder "515"

"505"-GraffitiPULS 24

"505"-Graffiti

Teils posieren sie in den Beiträgen mit Waffen wie Messern, Wurfsternen oder gar Schreckschusspistolen. Meist tragen die jungen Männer Sturmhauben. Am Wiener Praterstern wirken die Jungs erst schüchtern, sie werden aber immer mehr und tauen auf. Hier tragen sie Gucci-Cap und "EA7"-Armani-Jacke, nicht Sturmhaube. Etwas nervös werden sie, als die Polizei zu einer Schwerpunktkontrolle kommt. 

Polizei mit Schwerpunktkontrollen

Gezielt sprechen die Beamten die jungen Männer an und kontrollieren ihre Ausweise. Viele von ihnen sind minderjährig, teils ohne Eltern aus Syrien geflüchtet. Ein 13-Jähriger kam sogar aus einem Heim in Tirol angereist, er sei nun in Wien auf "Urlaub", sagt er. 

Schwerpunktkontrolle der Polizei am PratersternPULS 24

Schwerpunktkontrolle der Polizei am Praterstern

Bei der Polizei zücken sie ihre grauen Karten - sie haben Asyl oder subsidiären Schutz in Österreich. Die Beamten finden zu den Jugendlichen nichts im System, sie ziehen weiter. Die Kontrollen sind eine Folge der gewaltvollen Auseinandersetzungen und werden wohl noch einige Tage andauern. 

Familienstamm oder Bande?

Auch die "505er" wollen sich nicht als Gang oder Bande verstehen. Bei "505" bzw. "515" handle es sich um einen Familienstamm aus Syrien, erklären sie. Der hätte "Millionen" Mitglieder, nichts mit Kriminalität zu tun.

Historisch wurden die Zahlen auch als arabisch-nationalistische Codes benutzt - das erwähnen die Jugendlichen aber nicht. Auf der Straße, in den sozialen Medien dient der Name jetzt wohl der Identitätsstiftung. "505"-Graffitis zieren mittlerweile dutzende Wände, die Hashtags das Internet. 

Mortzas SchuhePULS 24

Mortza möchte lieber anonym bleiben.

Mortza, 16-Jahre alt, ist einer von jenen, die sich "505" zugehörig fühlen. Am Praterstern, wo er regelmäßig mit seinen Freunden abhängt, erzählt der junge Syrer im Gespräch mit PULS 24, dass er in der Großfeldsiedlung in Floridsdorf von "Tschetschenen" angegriffen worden sei. Sein Freund hätte danach wiederbelebt werden müssen, sagt er. "Die haben uns halbtot geschlagen"

Die Sache selbst in die Hand nehmen

Die "Ches" würden durch die Straßen ziehen und Mitglieder von "505" suchen und Jugendliche nach ihrer Nationalität fragen, erzählt er über die Gegenseite. Auch er wirft den Kontrahenten vor, "keine Ehre" zu haben und immer in größeren Gruppen anzugreifen.

Ähnliche Ansichten wie die Gegenseite hat er auch über die Polizei: "Die, die uns geschlagen haben, die sollen schneller bestraft werden. Wenn die Polizei so etwas nicht mehr macht, so werden die Leute gezwungen, ihre Rechte selbst zu holen". Die Polizei komme bei den Konflikten zu langsam - er würde nun auf der Straße nicht mehr sagen, dass er zu "505" gehöre, so Mortza.

Wie kam es zu der Eskalation?

Islamismusforscher und Mitgründer des Vereins "DeRad", Moussa Al-Hassan Diaw, im PULS 24 Interview.

Beide Seiten werfen sich also ähnliche Vorwürfe an den Kopf und fühlen sich von der Polizei nicht unterstützt.

Auf beiden Seiten kursieren außerdem Gerüchte, die wohl teils in den sozialen Medien gestreut werden. Dort kursieren etwa in verschiedenen Telegram-Gruppen Videos von Schlägereien. Wer, wo, wen angegriffen oder welches Mädchen belästigt habe, ist dort genauestens nachzulesen. Vieles wird geglaubt und kommentiert. Stimmen wird sicher nicht alles davon. 

So hält sich auf beiden Seiten unter den Jugendlichen das Gerücht, dass momentan "Friedensgespräche" zwischen den "Älteren" der beiden Seiten stattfinden würden - in einer Moschee. Die Syrer meinen, man hätte den Tschetschenen ein Ultimatum gesetzt. Die Tschetschenen meinen hingegen, es sei jetzt kein Frieden mehr möglich. "505" sei zu weit gegangen.

Wer an diesen Gesprächen überhaupt teilnehmen würde, konnten beide Seiten nicht sagen. Sollte es die Gespräche geben, ist also fraglich, ob etwaige Ergebnisse auf der Straße ankommen.

"Für den Frieden sorgen wir"

Wie kann der Konflikt, der Schwerverletzte auf beiden Seiten forderte, also beendet werden? "Für den Frieden sorgen wir", sagte kürzlich Dietmar Berger vom Landeskriminalamt bei einer Pressekonferenz anlässlich der Gewalt. Die Polizei berichtete von einem ersten Erfolg: Bei der Auseinandersetzung in der Brigittenau wurde ein Tschetschene verhaftet, der angeblich andere zum Tatort gefahren haben soll. 

Die Polizei will nun mehr Präsenz in den Parks zeigen. In Zukunft sollen bei Ausschreitungen nicht wieder die meisten entkommen.

Der Austro-Tschetschene Mowsurow und seine Freunde betonen unterdessen, sie hätten ihren Verwandten gesagt, sie sollen nichts machen und abwarten, was die Polizei unternimmt. Sie betonen aber, dass sie "nicht kontrollieren" könnten, was die machen, "die nicht von unserem Kreis sind".

Der, der ihn fast getötet hätte, würde nun Angst haben, ist er sich sicher. Der Mann habe Angst, "dass er von den Tschetschenen gesucht wird", er habe aber "wahrscheinlich auch Angst vor der Polizei". 

Mortza auf der anderen Seite hofft auf einen schnellen Frieden, er kenne auch Personen, die sich nicht mehr auf die Straße trauen würden. Unterdessen laufen die gegenseitigen Drohungen in die sozialen Medien munter weiter. 

Bandenkriminalität in Wien: Polizei kontrolliert verstärkt

ribbon Zusammenfassung
  • Syrer, die sich als "505/515er" verstehen und Tschetschenen alias "Ches" lieferten sich in den vergangenen Tagen mehrere heftige Kämpfe auf Wiens Straßen.
  • Der Konflikt forderte Schwerverletzte auf beiden Seiten.
  • PULS 24 hat mit den Opfern gesprochen und die Ursachen für den Konflikt gesucht.