Serbien - EU - Aleksandar VucicPULS 24

Analyse

Warum der Westen schweigt, während Serbien kämpft

17. März 2025 · Lesedauer 7 min

Seit Jahren unterhält die EU gute Beziehungen zu Serbiens Präsident Aleksandar Vučić - trotz autoritärem Führungsstil, trotz Vučićs Vergangenheit als Ultranationalist. Und trotz der Tatsache, dass es in Serbien Demokratiedefizite gibt, für die Vučićs Regierung verantwortlich ist. Und während in Serbien seit Monaten täglich Proteste stattfinden, hüllt sich die EU in Schweigen.

Eine ganze Generation von Studierenden geht seit Monaten auf die Straßen Serbiens, um ihr Anrecht auf Demokratie einzufordern. Begleitet werden sie auch von den Generationen, die ihren Kampf für Veränderungen eigentlich bereits vor Jahrzehnten aufgegeben haben.

Nachdem der Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad 15 Menschen tötete, verwandelten sich Trauerminuten für die Opfer zu einem Kampf für Rechtsstaatlichkeit und gegen Korruption. Aus einem Akt des Trauerns wurde in Serbien eine landesweite Bewegung für die Demokratie. 

Serbien demonstriert - die EU schweigt

Und während in Serbien seit knapp vier Monaten fast täglich Demonstrationen stattfinden - die größten seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000 - hüllt sich die EU in Schweigen. Während EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und auch der Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Josep Borrell, bei den Protesten in Georgien im Mai 2024 ihre Unterstützung klar betonten, ist die EU diesmal still, wenn es um die Proteste in Serbien geht. 

Warum kommentiert die EU die Geschehnisse in Serbien nicht? Geht es zumal um den Kampf für Demokratie und die EU genau diese Werte vertritt. Und zumal Serbien seit 2012 offiziell EU-Beitrittskandidat ist, von dem für den Beitritt die Erfüllung von gewissen Standards verlangt werden.

SERBIA - DEMONSTRATION - POLITICS - CORRUPTION =APA/AFP/Andrej ISAKOVIC

Aus "Eigeninteresse" auf Vučić gesetzt 

Geht es nach dem Balkan-Experten Vedran Džihić, gibt es dafür mehrere Gründe.

So habe die EU laut ihm in dem Prozess der EU-Erweiterung "irgendwann die Wende vollzogen" zu einer sogenannten "Stabilokratie". Die EU setze eher "auf die Kooperation mit Autokraten um die Stabilität zu bekommen in einer heiklen Region, aber auch um sie irgendwie zu Zugeständnissen zu bewegen bei bestimmten Dingen", so Džihić gegenüber PULS 24.

Eine Sache, die dem Westen zum Beispiel wichtig gewesen sei, ist das Verhalten Serbiens in Bezug auf den Ukraine-Krieg und Russland. "Der Westen hat ein starkes Interesse, dass Serbien nicht zu stark in die russische Einflusszone abrutscht. Und dem Westen war es zum Beispiel auch wichtig, dass sich Serbien hinter vorgehaltener Hand bereit erklärt hat, Munition in die Ukraine zu liefern", erklärt der Balkan-Experte.

Der Westen habe "immer wieder - manchmal auch ganz eindeutig - aus Eigeninteresse auf Vučić gesetzt", so Džihić. Das sei am besten bei dem Lithium-Deal sichtbar gewesen, bei dem die EU hofft, dass Serbien zum europäischen Green-Deal beitragen kann. Der dritte Grund sei, dass die EU auch ihre eigenen Probleme hat.

Zähle man das alles zusammen, erhalte man eine recht passive Haltung vonseiten des Westens. "Unter dem Strich" führe das aber dazu, dass "weder aus Deutschland, noch aus der EU und schon gar nicht aus den USA ein Wort der Unterstützung für die Studierenden kommt", schlussfolgert Džihić.

Und genau das sei einer der Unterschiede zu dem Sturz von Milošević: Während damals der Westen die demokratische Opposition gestützt hat, sind sie diesmal "nicht nur nicht unterstützend, sondern eher selbstbeschwichtigend".

info Slobodan Milošević

Slobodan Milošević war ein kommunistischer und später sozialistischer jugoslawischer und serbischer Politiker. Innerhalb verschiedener politischer Funktionen galt er von 1987 bis 2000 als die bestimmende politische Führungsfigur Serbiens und später der Bundesrepublik Jugoslawien.

Milošević fungierte als Präsident der Sozialistischen Republik Serbien (1989–1991), Präsident der Republik Serbien (1991–1997) und Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien (1997–2000).

Im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg wurde er 1999 als erstes Staatsoberhaupt noch während seiner Amtsausübung von einem Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermordes angeklagt - die Anklage wurde später auch auf die Jugoslawienkriege 1991–1995 ausgedehnt.

Nachdem Milošević am 5. Oktober 2000 aufgrund von Massendemonstrationen als jugoslawischer Staatspräsident zurückgetreten war, wurde er auf Betreiben des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić im Jahr 2001 verhaftet und an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert. Der Prozess begann im Jahr 2002, jedoch starb Milošević im Jahr 2006 vor dem Abschluss des Verfahrens, so dass es zu keinem Urteil kam.

"Menschen stehen allein da"

Auch der Schweizer Osteuropa-Experte Oliver Jens Schmitt ortet "dröhnendes Schweigen" und äußert scharfe Kritik an der EU und ihrem Umgang mit den Protesten. Dass sich die internationale Aufmerksamkeit darauf generell in Grenzen halte, hält Schmitt für einen schweren Fehler.

"Die Menschen, die jetzt auf die Straße gehen für eine bessere Zukunft und für einen Rechtsstaat, die stehen wirklich allein. Nicht weil man sie ignoriert, sondern weil man sie aktiv nicht unterstützt. Es gibt derzeit keinen einzigen Faktor in der internationalen Politik, der auch nur ansatzweise der Demokratiebewegung in Serbien Unterstützung verleiht. Niemanden."

Dabei suche die Protestbewegung "fast schon verzweifelt" nach Aufmerksamkeit, meint Schmitt im APA-Gespräch. Mit Aufmerksamkeit meint er nicht Geld, sondern Anerkennung

Warum gerade Österreich "nach Osten blicken" sollte

Österreich könne, "weil es eine hohe Kompetenz gibt im Außenministerium", eine führende Rolle ergreifen, meint Schmitt. Man bräuchte hierzulande aber wieder "Politiker, die nach Osten blicken."

Schmitt nennt einen entscheidenden Grund, weshalb gerade Österreich sich der Proteste annehmen solle: "Für Österreich ist es viel wichtiger als für andere Länder, was dort geschieht, weil ein wichtiger Nachbar Österreichs ein problematischer Faktor ist, und das ist Ungarn." Ungarn betreibe seit vielen Jahren eine eigene Balkanpolitik, habe auch auf Geschäftsbasis Einfluss genommen und arbeite "als Konkurrent zur EU".

Es sei kein Zufall, dass Ministerpräsident Viktor Orbán Vučić erst kürzlich den höchsten Orden des Landes hat überreichen lassen. Österreich habe die ungarische Entwicklung hingenommen, aber sei nicht bereit gewesen, "Kontra zu bieten." Auch Deutschland gehe es bloß um seine Automobilindustrie.

Ultranationalist und Propagandaminister Vučić

"Das ist das Erbe der Regierung Merkel, die immer auf Vučić gesetzt hat als Stabilitätsanker und nie versucht hat, mit anderen Kräften in Serbien und außerhalb Serbiens den sogenannten Westbalkan zu stabilisieren. Man hat Geschäfte getrieben mit einem autoritären Herrscher, dessen Wurzeln im serbischen Ultranationalismus liegen", erinnert Schmitt daran, dass Vučić unter anderem Propagandaminister des damaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević war.

"Man sollte einmal sehen, wie der junge Vučić gesprochen hat in den Neunzigerjahren, mit welchem Hass, insbesondere gegen Muslime, Bosniaken und Albaner. Der Mann hat sich nicht geändert", pocht Schmitt darauf, der Geschichte Beachtung zu schenken. 1995 beispielsweise hatte Vučić gesagt, Belgrad müsse jede Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal ablehnen. Der Gerichtshof war für im Jugoslawien-Krieg begangene Verbrechen zuständig.

Der Historiker sieht den serbischen Präsidenten allerdings nicht völlig der EU abgeneigt. "Er tut ja auch Dinge, die die EU will: Er liefert Waffen in die Ukraine, er löst sich langsam von einer militärischen Abhängigkeit von Russland, indem er französische Rüstungsgüter kauft, und er stellt seine Rohstoffe zur Verfügung", etwa Lithium an Deutschland. Das trage aber nicht dazu bei, rechtsstaatlich orientierte Systeme zu etablieren.

Kritiker werfen Vučić vor, seine Macht auf korrupte Netzwerkeeingeschränkte Medienfreiheit und manipulierte Wahlen zu stützen. Die Kontrolle über die Justiz ermögliche es ihm, Zustände aufrechtzuerhalten, die im Widerspruch zur Rechtsstaatlichkeit stehen.

Man hat Geschäfte getrieben mit einem autoritären Herrscher, dessen Wurzeln im serbischen Ultranationalismus liegen.

— Osteuropa-Experte Oliver Jens Schmitt

Wirtschaftliche Interessen, aber keine demokratiepolitischen

Der EU wirft Schmitt vor, lediglich wirtschaftliche Interessen am Balkan zu haben, aber keine demokratiepolitischen. "Wer prowestlich war in der Region, wurde wie Nordmazedonien im Stich gelassen. Wir stehen vor dem Scherbenhaufen der gesamten Vorfeldpolitik der EU." Die einzige Ausnahme sei der Berliner Prozess gewesen, den die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel 2014 angestoßen hatte.

Merkel habe aber nicht mehr den politischen Willen gehabt, den Prozess zu Ende zu bringen. In der Folge hätten sich viele Staaten weg von der EU bewegt. Die Initiative existiert weiterhin, neben den sechs Westbalkanstaaten Albanien, Nordmazedonien, Kosovo, Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina ist unter anderem Österreich involviert.

"In der Ukraine hat man immer unter EU-Fahnen protestiert", ruft Schmitt in Erinnerung. "Die jungen Leute in Belgrad sind realistisch, die wissen schon, warum sie das nicht tun. Das ist am allerbittersten", bedauert Schmitt. Bis jetzt sei es am Rande Europas üblich gewesen, die EU-Fahne zu schwenken, wenn man für Demokratie protestiere. "Und das ist nicht mehr so. Da sieht man, wie das Ansehen der EU gesunken ist."

Zusammenfassung
  • Seit Jahren unterhält die EU gute Beziehungen zu Serbiens Präsident Aleksandar Vučić - trotz autoritärem Führungsstil, trotz Vučićs Vergangenheit als Ultranationalist.
  • Und trotz der Tatsache, dass es in Serbien Demokratiedefizite gibt, für die Vučićs Regierung verantwortlich ist.
  • Und während in Serbien seit Monaten täglich Proteste stattfinden, hüllt sich die EU in Schweigen.