Panik bei Massenprotest
Setzte Vučić eine Schallkanone gegen sein Volk ein?
"Wir werden uns ändern müssen und vieles dazulernen", sagte Vučić am Samstagabend, nachdem der von Studenten einberufene Großprotest im Belgrader Stadtzentrum abrupt unterbrochen wurde. Laut dem regierungsunabhängigen Archiv der öffentlichen Kundgebungen hatten sich zwischen 275.000 und 325.000 oder "noch mehr" Anhänger der Studentenproteste in Belgrad versammelt.
Unterdessen werden die Vorwürfe immer lauter, die Polizei hätte eine Schallkanone gegen die Demonstrierenden verwendet.
Panikausbruch: Einsatz von Schallkanone?
Die Studenten erklärten ihre Kundgebung für beendet, nachdem kurz nach 19.00 Uhr unter einer größeren Demonstrantengruppe Panik ausgebrochen war. Wodurch diese ausgelöst wurde, konnte an Ort und Stelle nicht festgestellt wurde.
Der Vorfall ereignete sich während einer Schweigeminute für die 15. Opfer von Novi Sad: Auf Aufnahmen ist zu sehen, wie die Menschen ein Geräusch hören und sich nach hinten umdrehen. Schließlich bricht unter der Masse Panik aus und sie weichen von der Straße. Kurz vor dem Ereignis sieht man auf den Aufnahmen Polizisten, die den Standort verlassen.
Zeugen berichteten serbischen Medien zufolge von einem plötzlichen schmerz- und angsterzeugenden Geräusch.
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Der Militärexperte Aleksandar Radić und der ehemalige Generalstabschef Zdravko Ponos führten den Panikausbruch auf den Einsatz einer Schallkanone zurück, welche die serbische Polizei seit gut zwei Jahren besitzen soll.
Bisher wurde sie noch nie eingesetzt. Vučić wies diese Behauptungen als "abscheuliche Lüge" zurück.
Schallkanone
Ein Long-Range Acoustic Device (LRAD, auch Schallkanone genannt) ist ein von Streitkräften und privaten Sicherheitsdiensten benutztes akustisches Gerät, mit dem sowohl normale Lautsprecher-Durchsagen als auch schmerzhaft laute Töne ausgesendet werden können.
Beim LRAD werden akustische Signale im Bereich von 2100 bis 3100 Hertz ausgesendet. Aufgrund des hohen Schalldrucks können die Töne mindestens über einen Kilometer weit wahrgenommen werden. Der vom LRAD einsetzbare schrille Ton führt im Nahbereich zu einem starken Schmerzreiz und dient dazu, den Gegner zu verletzen oder außer Gefecht zu setzen. Das LRAD wurde im Auftrag des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten als nicht-tödliche Waffe entwickelt.
Bei den Betroffenen kann ein intensiver Schock und Schmerz im Ohr entstehen, der einen Angstzustand auslösen kann.
Vučić spielt Teilnehmerzahl herunter
In seiner TV-Ansprache spielte Vučić die Teilnehmerzahl aufgrund von Angaben der Sicherheitsdienste herunter: er sprach von 88.000 bis 107.000 Teilnehmern.
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Das regierungsunabhängige Archiv der öffentlichen Kundgebungen gab dagegen an, dass sich in Belgrad zwischen 275.000 und 325.000 oder "noch mehr" Anhänger der Studentenproteste versammelt hätten.
Da von den Demonstranten praktisch das ganze Stadtzentrum besetzt wurde, konnte man ihre genaue Zahl demnach nicht feststellen.
Neuwahlen nicht mehr ausgeschlossen
Serbiens Präsident stellte am Samstagabend indirekt vorgezogene Parlamentswahlen in Aussicht. Die Großkundgebung habe seiner Ansicht nach gezeigt, dass die Bürger ihre Behörden durch Wahlen wechseln wollten. Vor einigen Wochen hatte er Neuwahlen noch ausgeschlossen.
Anlass für die Studentenproteste ist der Einsturz des Bahnhofsvordach in Novi Sad, bei dem am 1. November des Vorjahres 15 Personen ums Leben kamen. Nachdem Studenten der Belgrader Fakultät bei einer Verkehrsblockade zur Erinnerung der Unfallopfer von Funktionären der seit 2012 regierenden Serbischen Fortschrittlichen Partei (SNS) angegriffen wurden, kam es Ende November landesweit zur Blockade aller staatlichen Universitäten. Diese hält seither an.
Kritiker werfen Vučić vor, seine Macht auf korrupte Netzwerke, eingeschränkte Medienfreiheit und manipulierte Wahlen zu stützen. Die Kontrolle über die Justiz ermögliche es ihm, Zustände aufrechtzuerhalten, die im Widerspruch zur Rechtsstaatlichkeit stehen.
Menschen aus dem ganzen Land
Zu der Kundgebung am Samstag kamen Menschen aus ganz Serbien nach Belgrad. Studierende waren aus verschiedenen Landesteilen zu Fuß in die Hauptstadt marschiert. Ihnen bescherten Belgrads Bürger in der Nacht zuvor einen euphorischen Empfang.
Sie beklatschten und bejubelten die jungen Leute, die zum Teil mehrtägige Fußmärsche über Distanzen von 200 Kilometer oder mehr zurückgelegt hatten.
Studenten fordern Offenlegung aller Dokumente
Die Studenten fordern vier Punkte. Unter anderem soll die gesamte Dokumentation zur Renovierung des Bahnhofgebäudes in Novi Sad veröffentlicht werden. Auch wenn die Behörden bisher tausende Dokumente veröffentlicht haben, fehlen laut Experten der Belgrader Universität weiterhin entscheidende Schriftstücke. Es soll nämlich um jene Dokumente gehen, die auf Korruption hindeuten.
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Die gut zwei Jahre dauernden Renovierungsarbeiten sollten laut Kostenvoranschlag etwa 3,5 Millionen Euro kosten. Die Endkosten der Renovierungsarbeiten beliefen sich allerdings auf 15 Millionen Euro. Der Bahnhof war im Juli 2024 feierlich für den Verkehr freigegeben worden, obwohl er noch gar keine Genehmigung erhalten hatte. Nach dem Unfall wurde er erneut zur Baustelle erklärt.
Zusammenfassung
- Der Massenprotest in Belgrad am Samstag wurde plötzlich für beendet erklärt, nachdem unter einer größeren Demonstrantengruppe Panik ausbrach.
- Zeugen berichten von einem plötzlichen schmerz- und angsterzeugenden Geräusch.
- Die Vorwürfe häufen sich, die Regierung hätte eine Schallkanone gegen ihr demonstrierendes Volks verwendet.