Van der Bellen: Wir sehen "Sittenbild, das der Demokratie nicht guttut"
Er werde mit Argusaugen darauf achten, dass die Handlungsfähigkeit der Regierung und der Institutionen erhalten bleibe, sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen in seiner Stellungnahme am Freitag. Es seien schwere Anschuldigungen gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), denen die Staatsanwaltschaft nachgehe.
Es gelte die Unschuldsvermutung, so Van der Bellen, es zeige sich aber ein "Sittenbild, das der Demokratie nicht guttut". Er hätte an Politiker andere Erwartungen.
"Regierungskrise, keine Staatskrise"
Auch die Bürger hätten Rechte - auf eine handlungsfähige Regierung unter anderem, so der Präsident. Dafür würde er nun sorgen. Es handle sich um eine Regierungskrise und um keine Staatskrise. Die "unerschütterliche Bundesverfassung" werde dafür sorgen, dass die Republik nicht aus dem Gleichgewicht kommt.
Van der Bellen appelliert an alle Politiker, an das Wohl Österreichs und nicht an Parteiinteressen zu denken. "Wir können uns keine Egoismen leisten", so Van der Bellen.
Am Dienstag werden die Volksvertreter in der Sondersitzung des Nationalrats entscheiden, wie es weitergeht und ob einem Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler zugestimmt wird. Als Präsident werde er keine Empfehlung abgeben. Er erwarte sich aber, dass im Interesse der Wähler gehandelt werde, so der Bundespräsident.
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Die gesamte Rede im Wortlaut
Liebe Österreicherinnen und Österreicher
und alle Menschen, die in Österreich leben,
ich habe versprochen, mich in schwierigen Zeiten immer direkt an Sie zu wenden. Und Sie transparent und persönlich über die wichtigen Dinge zu informieren. Dem möchte ich auch jetzt nachkommen:
Sie fragen sich in diesen Stunden vielleicht: „Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“
Ich möchte Ihnen kurz erläutern, was passiert ist, was als Nächstes passieren wird und was ganz sicher nicht passieren wird.
Und das vielleicht als allererstes: Es wird sicher nicht passieren, dass diese Republik aus dem Gleichgewicht kommt. Dafür werden wir alle sorgen. Und dafür wird einmal mehr unsere unerschütterliche Verfassung sorgen.
Denn das, was wir hier sehen, ist vielleicht eine Regierungskrise, aber sicher keine Staatskrise. Denn der Staat und die Verwaltung funktionieren ja. Das sehen wir gerade. Die Fundamente unseres Rechtsstaates sind intakt. Die Gewaltentrennung zwischen Exekutive, Legislative und Justiz funktioniert. Das haben die letzten Tage gezeigt. Und das werden die nächsten Tage zeigen. Unsere Demokratie ist gerüstet für alle möglichen Situationen, so auch für diese.
Was ist also passiert?
Wir sind am Mittwochmorgen Zeugen eines doch sehr ungewöhnlichen Vorganges geworden:
Es gab Hausdurchsuchungen. Unter anderem auch im Bundeskanzleramt, und die Staatsanwaltschaft ermittelt in einer neuen Causa. Auch gegen den amtierenden Bundeskanzler. Im Raum stehen schwere Anschuldigungen. Unter anderem Untreue und Bestechung.
Es ist Aufgabe der Justiz, Verdachtsmomenten nachzugehen, unabhängig vom Ansehen der Person. Es ist die Aufgabe der Staatsanwaltschaften, Belastendes und Entlastendes zu ermitteln. Und wir wissen derzeit nicht, ob diese Ermittlungen zu Anklagen führen werden oder nicht. Und es gilt bis zu einem möglichen Urteil eines unabhängigen Gerichtes für alle Betroffenen die Unschuldsvermutung.
Was wir aber klar sehen, ist einmal mehr ein Sittenbild, das der Demokratie nicht gut tut. Wir hören einen Ton der Respektlosigkeit gegenüber Personen und Institutionen unseres Rechtsstaates, sowohl in Chats als auch in aktuellen Äußerungen.
Ich habe andere Erwartungen an das Verhalten von politisch Verantwortlichen. Vorhin habe ich die Unschuldsvermutung erwähnt. Jeder Mensch gilt als unschuldig, solange er nicht rechtskräftig verurteilt ist. Sie ist das Recht jedes Menschen, der einer Straftat verdächtigt wird.
Aber auch die Bürgerinnen und Bürger Österreichs haben Rechte. Unter anderem jenes auf eine handlungsfähige Regierung.
Wir stehen vor großen Aufgaben, die keinen Aufschub dulden: Die Bewältigung der Pandemie. Die Erstellung der budgetären Grundlagen und die Weichenstellungen angesichts der Klimakatastrophe. Und vieles andere mehr.
Diese Handlungsfähigkeit ist nun in Frage gestellt. Ich habe daher heute und gestern Gespräche mit allen Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien geführt und mir ein erstes Bild vom Stand der Dinge, vom Stand des gegenseitigen Vertrauens gemacht.
In dieser Phase ist es wichtig, dass alle handelnden Personen zuallererst an das Wohl Österreichs denken. Parteiinteressen müssen jetzt hintangestellt werden. Österreich kann sich jetzt keine Egoismen leisten.
Ich appelliere daher an alle Parteien und ihre Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger: Denken Sie besonders jetzt nicht daran, was Sie kurzfristig für Ihre jeweilige Partei herausholen können. Denken Sie nur daran, was Österreich braucht.
Meine Damen und Herren,
für Dienstag haben die Oppositionsparteien im Parlament einen Misstrauensantrag gegen den Bundeskanzler angekündigt. Die Volksvertreterinnen und Volksvertreter, also Ihre Vertreter, werden darüber beraten und schlussendlich entscheiden, wie es nun in unserem Land weitergeht. Dafür wurde eine Sondersitzung einberufen. Das Parlament vertritt dabei Sie, liebe Wählerinnen und Wähler.
Es wird, das erwarte ich mir, nur in Ihrem Interesse handeln. Es wird darum bemüht sein, das Richtige zu tun.
Was die nächsten Tage bringen, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht genau zu sagen. Das ist Gegenstand von Überlegungen und Gesprächen zwischen den Parteien. Das ist in einer Demokratie notwendig und richtig.
Als Bundespräsident werde ich öffentlich keine Ratschläge erteilen. Aber ich habe dafür zu sorgen, dass es immer eine stabile Regierung gibt. Und werde das auch tun. Und, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch das in aller Deutlichkeit sagen:
Ich werde mit Argusaugen darüber wachen, dass die Handlungsfähigkeit und Integrität aller Institutionen unserer Republik gewährleistet ist. Ich werde darüber wachen, mit allem, was mir zur Verfügung steht. Und ich verspreche Ihnen, in den nächsten Tagen immer auf das Ganze zu schauen. Auf das Wohlergehen unserer Heimat. Darauf, dass die Grundlagen unseres Zusammenlebens ordentlich eingehalten werden. Und dass unser Land im Gleichgewicht bleibt.
Danke für Ihre wertvolle Zeit.
Zusammenfassung
- Bundespräsident Alexander Van der Bellen nahm am Freitag nach den Gesprächen mit den Parteichefs Stellung zu den aktuellen innenpolitischen Geschehnissen und fand klare Worte in Richtung der ÖVP.
- Van der Bellen werde mit Argusaugen darauf achten, dass die Handlungsfähigkeit der Regierung und der Institutionen gegeben bleibt, sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen in seiner Stellungnahme am Freitag.
- Es seien schwere Anschuldigungen gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), denen die Staatsanwaltschaft nachgehe.
- Es gelte die Unschuldsvermutung, so Van der Bellen, es zeige sich aber ein "Sittenbild, das der Demokratie nicht gut tut". Er hätte an Politiker andere Erwartungen.
- Auch die Bürger hätten Rechte - auf eine handlungsfähige Regierung unter anderem, so der Präsident. Dafür würde er nun sorgen. Er appelliert dabei an alle Politiker, an das Wohl Österreichs und nicht an Parteiinteressen zu denke.