Straßenwahlkampf: Kondome, Feuerzeuge und fehlender Schlaf
Rote Fahnen wehen am Wallensteinplatz in Wien-Brigittenau. Die Jugendorganisationen der SPÖ schenken hier am Freitagabend Spritzer und Bier aus - durchgestrichene FPÖ-Logos zieren die Flaschen. DJs beschallen das Grätzel und die Gäste in den Liegestühlen. Sogar Genoss:innen aus Deutschland sind gekommen, um beim Flyern zu helfen. In der Nacht sollen Jugendliche auf der Thaliastraße mit Kondomen von Andreas Babler überzeugt werden.
Nur wenige Stunden später versucht es die ÖVP mit ihren Goodie-Sackerln am Viktor-Adler-Markt in Wien-Favoriten. Der Nationalratsabgeordnete Nico Marchetti hat schon zwei Termine absolviert, als er am Samstag um 10 Uhr in der Parteizentrale im zehnten Bezirk eintrifft.
"Jede Stimme zählt"
Auch eine Woche vor der Wahl tut sich noch was: Laut Umfragen kann die ÖVP den Vorsprung der FPÖ kleiner machen. Der Zulauf zur Bierpartei geht zurück, was die SPÖ auf Stimmen hoffen lässt.
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"Jede Stimme zählt", heißt es nun im Endspurt sowohl von ÖVP als auch SPÖ. Am Wochenende wurden auf den Straßen Wiens unzählige Hände geschüttelt, Flyer verteilt, Argumente ausgetauscht, Goodies verteilt.
Wahlkampf findet nicht nur zwischen den Spitzenkandidat:innen im TV statt. Auf der Straße laufen neben Abgeordneten auch zahlreiche Funktionäre sowie Ehrenamtliche - teils seit Wochen. PULS 24 war am Wochenende dabei. Es zeigt sich: Wahlkampf geht an die Substanz, die Nervosität ist auf allen Seiten groß, die Stimmung dennoch so gut wie lange nicht.
Alexander Ackerl - Platz 16 auf der Landesliste der SPÖ in Wien - ist wahlkampferprobt. Als der Vorsitzende der "Jungen Generation" der SPÖ-Wien am Wallensteinplatz eintrifft, muss er zuerst dutzende Genoss:innen begrüßen, erst dann nimmt er sich einen Spritzer im Plastikbecher und setzt sich auf eine Bierbank.
Eine "langwierige Angelegenheit" sei dieser Wahlkampf. Auch, weil es heuer schon der dritte für ihn ist. Die SPÖ nehme - "nicht wie die anderen" - auch die Arbeiterkammerwahl ernst, sagt er. Dann kam noch die EU-Wahl, nun geht's um den Nationalrat und die nächste Regierung.
"Es fühlt sich an wie ein Marathon"
"Es fühlt sich an wie ein Marathon", sagt der 33-Jährige. Man laufe "Nacht und Tag, bis uns die Augen zufallen". Jeden Samstag wird am Schwedenplatz bis spät in die Nacht um Jungwähler:innen geworben, dazwischen wurden Partys und ein Rave organisiert.
Gleichzeitig sei ein Wahlkampf "unglaublich lustig und bereichernd". Als Politiker lerne man in Gesprächen auch inhaltlich viel dazu, sagt der Oberösterreicher. Am Wallensteinplatz anwesend ist auch eine SPÖ-Bezirksrätin aus dem 20. Bezirk. "Freundschaft", grüßt man sich. Wieder werden Hände geschüttelt. 40 Prozent der Einwohner:innen des Bezirks seien nicht wahlberechtigt, berichtet sie - das sei demokratiepolitisch ein Problem. Die Staatsbürgerschaft sei zu teuer. Zu wenige Eltern von Schulkindern sprechen Deutsch, kommt sie zum nächsten Thema.
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Ackerl hört zu, nickt und setzt zu einer kleinen Brandrede an. Wenn Unternehmer wegen einer Vermögenssteuer abwandern würden, würde dieser keiner fragen, wo denn ihr Patriotismus sei, kritisiert er etwa.
Die Bezirksrätin muss weiter - auf einem Lastenrad mit SPÖ-Aufdruck. Am nächsten Vormittag muss sie im Bezirk Flyer verteilen. Sie zähle nicht die Tage bis zum Wahlsonntag, sondern die Schlafstunden, sagt sie zum Abschied. Ackerl wird wohl noch weniger Schlaf erwischen.
Nervöse Blicke auf die Umfragen
Immer wieder werfen er und andere Genossen am Tisch nervöse Blicke auf ihre Handys. Eine neue Umfrage bescheinigt "dem Andi", unter Jungwähler:innen besonders beliebt zu sein, freut sich Ackerl. Generell wünsche er sich aber, dass der Wahlkampf "erfolgreicher" wäre.
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Ackerl glaubt, dass die SPÖ "systematisch unterschätzt" werde, dass Andreas Babler von "den Medien" "unfair" behandelt werde, weil er sich gegen die Interessen der Reichen einsetze. Dabei sei man "die einzige Partei mit Lösungen" - auch wenn man das nur noch nicht richtig rüberbringe, gesteht er ein. Er spricht über die Teuerung, die steigenden Mietpreise, Termine bei Ärzt:innen, den Klimawandel und darüber, wie wichtig es sei, eine FPÖ-Regierungsbeteiligung zu verhindern. "Wir holen unsere Zukunft zurück" ist das Motto der SPÖ-Jugend.
"Kein blockierendes Rad"
Die SPÖ-internen Streitigkeiten würden auf der Straße kaum jemanden interessieren, meint der Jungpolitiker. Im Wahlkampf würden viele Rädchen ineinander laufen. Als "Junge Generation" wolle man "kein blockierendes Rad sein", kommentiert er die rote Führungsdebatte.
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Mit der Straßenbahn geht es weiter zur Thaliastraße. Dort hat die "Junge Generation" schon einen Stand aufgebaut. Ackerl wird ihnen helfen, bis Mitternacht Kondome zu verteilen. "Du hast es in der Hand" oder "Keine dumme Entscheidung", ist darauf zu lesen. Man setze sich schließlich für gratis Verhütungsmittel und Hygieneprodukte für Frauen ein.
Grinsend und dankend nehmen die meisten Passanten an. Beschimpfungen auf der Straße würde es in diesem Wahlkampf kaum geben, sagt Ackerl.
Das bestätigt auch Nico Marchetti. Der ÖVP-Nationalratsabgeordnete absolviert schon seinen dritten Termin, als er am Samstagvormittag den Parteikeller in Wien-Favoriten betritt. Auf den Tischen haben junge Funktionäre, gekleidet in weiße Westen mit "Team Marchetti"-Aufschrift, bereits Goodie-Säckchen bereit gestellt, die im Getümmel am Viktor-Adler-Markt unters Volk gebracht werden sollen. Flyer, Kugelschreiber und Feuerzeuge befinden sich darin.
Auch Marchetti ist wahlkampferprobt. Es sei "vielleicht" schon seine zehnte Wahl, sagt der 34-Jährige. Die Menschen auf der Straße seien dieses Mal weniger aggressiv als in vergangenen Wahlkämpfen. Die Stimmung sei eher "nachdenklich".
Keine Spuckattacken mehr
Auch mit Menschen, die nicht die ÖVP wählen, würde er "spannende Diskussionen" führen. Viele würden sich über mögliche Koalitionen nach der Wahl erkundigen und "wie es mit dem Land weitergeht". Noch im EU-Wahlkampf war das anders, Menschen auf der Straße seien "pauschal ablehnend" gegenüber der Politik gewesen. "Die Zeiten, wo wir auf der Straße angespuckt wurden, sind wirklich vorbei", sagt Marchetti.
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Eine Situation im zehnten Bezirk blieb Marchetti besonders in Erinnerung: Eine Frau habe sich minutenlang beschwert, dass die Regierung "alles falsch" gemacht habe. Irgendwann habe er dann zu ihr gesagt: "Dann wählen S' halt eine andere Partei". Nach einer Stunde sei die Frau zurückgekommen und habe gemeint: "So ehrlich hat mir das noch nie wer gesagt". Sie werde ihrem Sohn, der ÖVP wählt, sagen, er solle Marchetti eine Vorzugsstimme geben.
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Der Bezirksparteiobmann von Favoriten und stellvertretende Bundesobmann der JVP kandidiert auf Listenplatz 2 in Wien. Auf der Favoritenstraße erkennen den Politiker auch einige und verwickeln ihn in Gespräche. An diesem Vormittag muss der ÖVPler mehr zuhören, als eigene Argumente vorbringen.
"Der Werner ist eh ein Lieber"
Ein Mann fordert energisch und wortreich eine strengere Migrationspolitik ein. Marchetti hört zu, verweist auf den EU-Migrations- und Asylpakt und darauf, dass Magnus Brunner ja nun EU-Kommissar Inneres und Migration werde. "Der ist ja von uns, von der ÖVP", erklärt er.
"Der Werner ist eh ein Lieber", sagt er in einem Gespräch über den grünen Vizekanzler, der sei ja nicht das Problem bei den Grünen.
Eine Seniorin drückt dem Politiker ihr Handy in die Hand - er solle mit ihrem Sohn spreche. Das Telefonat klappt nicht recht - Marchetti schreibt der Dame seine Mail-Adresse auf. "Ja, bis Mittwoch kann man noch Briefwählen", muss er ihr erklären.
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Die meisten jedoch nehmen die Goodies der ÖVP dankend an und gehen wortlos weiter. Nur eine Frau kommt zurück und fragt, ob es denn noch mehr Feuerzeuge geben würde. "Ich wähle eh den Karli", ruft ein Mann, der deshalb keine Flyer mehr annehmen will.
"Nicht alles leiwand, nicht alles oasch"
"Lösungen statt Populismus" verspricht Marchetti auf seinen Flugblättern. "Ich verstehe eure Emotionen, aber die Versprechen der FPÖ sind keine Hilfe", sagt er. Gerade in Favoriten habe er "keinen Bock" mehr, zu hören, dass es keine Probleme gebe. Für ihn gelte: "Es ist nicht alles leiwand, nicht alles oasch". Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Budget, Integration und Migration seien laut ihm gerade die wichtigsten Themen auf der Straße. Bei Schuldiskussionen falle ihm auf, dass das Thema Klimaschutz "in den Hintergrund" rücke - "was ich nicht ganz nachvollziehen kann".
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Und was passiert, wenn man Wahlwerber der anderen Parteien auf der Straße treffe? Mit den Grünen tausche man sich dann eben über die Goodies aus - "sie haben vegane Gummibärli". Die FPÖ habe er "noch gar nicht getroffen". "Am schwierigsten" wäre die Stimmung bei der SPÖ. "Die haben's nicht leicht", meint Marchetti - die Nervosität sei hoch.
Doch auch für den ÖVP-Politiker ist der Wahlkampf "extrem kräfteraubend". Er verspüre aber ein "Sinngefühl", dass ihn dann doch wieder am Samstag um 6 Uhr aufstehen lasse. Er hoffe, dass die ÖVP Platz 1 erreiche. Ohne Bierpartei im Nationalrat sieht der Favoritner sogar ein Szenario, in dem eine Zweierkoalition mit 45 Prozent eine Mandatsmehrheit erreichen könnte.
"Jede Stimme zählt", ruft er zum Wählen auf. Nach einer Stunde im zehnten Bezirk muss er weiter. Nächster Stopp: Floridsdorf.
Hinweis: PULS 24 wollte die drei laut Umfragen stärksten Parteien im Wahlkampf begleiten, die FPÖ beantwortete mehrere entsprechende Anfragen jedoch nicht.
Zusammenfassung
- Eine Woche vor der Wahl versuchen die Parteien nochmal alles, um Wähler:innen von sich zu überzeugen - auch im direkten Gespräch, auch wenn alle schon müde sind.
- PULS 24 begleitete ÖVP und SPÖ auf den Straßen Wiens.
- Bis zum Wahlsonntag werden die Stunden Schlaf gezählt. Die Nervosität ist auf beiden Seiten groß. Doch die Stimmung ist so gut, wie lange nicht.