Serbien: Tausende Menschen bei Großprotest gegen Regierung
Nach Polizeiangaben haben sich auf dem zentral gelegenen Slavija-Platz etwa 28.000 bis 29.000 Menschen, darunter unzufriedene Landwirte, Lehrer und Ärzte, versammelt.
Das nicht-staatliche Archiv der öffentlichen Kundgebungen hat am Montag die Teilnehmerzahl allerdings wesentlich höher eingeschätzt - zwischen 100.000 und 102.000.
Landesweite Blockaden von Universitäten
Seit Wochen halten Studenten landesweit alle staatlichen Universitäten unter Blockade. Ihnen haben sich zuletzt auch etliche Gymnasiasten und andere Mittelschüler angeschlossen, die am heutigen Montag per Regierungsbeschluss vorzeitig in die Weihnachtsferien geschickt wurden.
Dass dies die Protestwelle aufhalten wird, glaubt derzeit allerdings kaum jemand.
Anlass: Tödlicher Einsturz eines Bahnhofsvordachs
Den Anlass hatte am 1. November der Einsturz des Bahnhofvordaches in Novi Sad geliefert, als 15 Personen ums Leben kamen und zwei weitere mit schweren Verletzungen den Unfall überlebten. Dabei war das Gebäude erst im Sommer nach vierjährigen Renovierungsarbeiten feierlich wieder eröffnet worden. Nicht nur Studenten, sondern auch die Opposition und die breite Öffentlichkeit vermuten Korruption und fehlerhafte Renovierung hinter dem Unfall.
Als dann Studenten der Belgrader Akademie der Darstellenden Kunst vor Wochen auf den Straßen vor ihrer Fakultät 15 Gedenkminuten für die Unfallopfer abhielten, wurden sie von wütenden Lokalpolitikern der regierenden Serbischen Fortschrittlichen Partei (SNS) heftig attackiert. Inzwischen werden Gedenkminuten bereits überall in Serbien abgehalten.
Proteste bekamen Zulauf
Am vergangenen Freitag war die Stimmung an der Straßenecke vor der Belgrader Akademie der Darstellenden Kunst eine ganz andere.
Bei den Lenkern der auf dem vielbefahrenen Milutin-Milanković-Boulevard aufgehaltenen Fahrzeuge war kein nervöses Hupen zu vernehmen. Ganz im Gegenteil, viele blieben im Regen neben ihren Fahrzeugen stehen, um sich den Gedenkminuten anzuschließen. Auch die Fahrgäste eines städtischen Busses stiegen vorübergehend aus.
Ähnliche Szenen sind inzwischen praktisch täglich auch anderswo in Serbien zu sehen. Studenten verlangen von den Behörden die Veröffentlichung der gesamten Dokumentation zu den Renovierungsarbeiten in Novi Sad, auch die Bestrafung von Personen, die die Protestierenden in den letzten Wochen angegriffen hatten
Auf Aufforderung von Präsident Aleksandar Vučić hat die Regierung auf ihrem Portal unterdessen zahlreiche Dokumente zu dem Einsturz veröffentlicht, offenbar aber nicht alle, wie Kritiker bemängeln.
Man habe alle Studentenforderungen erfüllt, meinte Vučić dazu. Man habe sich nicht an den Präsidenten gewandt, der gar keine Befugnisse in diesem Bereich habe, sondern an die zuständigen Institutionen, erwidern seitdem die Studenten immer wieder.
Präsident Vučić wird von Demonstranten ignoriert
Serbiens Präsident, der seit Jahren für seine direkte Einmischung in die Arbeit der Regierung, Justiz und anderer Institutionen bekannt ist, hat zum ersten Mal ein großes Problem: Seine bisher unantastbare Autorität wird von jungen Menschen völlig ignoriert. Sie verlangen, dass die zuständigen Institutionen und nicht der zunehmend autoritärer regierende Vučić, der seit Jahren praktisch täglich seine bescheidenen Verfassungsbefugnisse überschreitet, ihre Arbeit verrichten.
Ähnliche Studentenproteste hatte man in Serbien zuletzt vor 28 Jahren nach Betrug bei den Kommunalwahlen gesehen. Damals war das Regime von Slobodan Milošević dadurch bedeutend erschüttert worden.
Die Kinder damaliger Studenten scheinen nun aber wesentlich entschlossener als ihre Eltern in der Bestrebung zu sein, in einem demokratischen Staat mit funktionierenden Institutionen zu leben. Der Präsident interessiert sie nicht.
Zusammenfassung
- "Wir alle stehen unter dem Vordach", war es am Sonntag bei einer Großkundgebung der Studenten im Zentrum Belgrads auf einem Spruchband zu lesen.
- Nach Polizeiangaben haben sich auf dem zentral gelegenen Slavija-Platz etwa 28.000 bis 29.000 Menschen, darunter unzufriedene Landwirte, Lehrer und Ärzte, versammelt.
- Das nicht-staatliche Archiv der öffentlichen Kundgebungen hat am Montag die Teilnehmerzahl allerdings wesentlich höher eingeschätzt - zwischen 100.000 und 102.000.
- Seit Wochen halten Studenten landesweit alle staatlichen Universitäten unter Blockade.
- Ihnen haben sich zuletzt auch etliche Gymnasiasten und andere Mittelschüler angeschlossen, die am heutigen Montag per Regierungsbeschluss vorzeitig in die Weihnachtsferien geschickt wurden.
- Dass dies die Protestwelle aufhalten wird, glaubt derzeit allerdings kaum jemand.