Selenskyj: NATO-Mitgliedschaft vor Kriegsende "unmöglich"
Sein Land verstehe, dass es kein NATO-Mitglied in einen Krieg hineinziehen werde, sagte Selenskyj am Freitag nach einem Treffen mit dem estnischen Präsidenten Alar Karis vor Journalisten. Selenskyj hofft beim NATO-Gipfel im Juli auf konkrete Beitrittszusagen für sein Land.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 drängt Selenskyj verstärkt auf eine NATO-Mitgliedschaft seines Landes. Obwohl fast alle Staaten des nordatlantischen Bündnisses das Land in seinem Verteidigungskrieg militärisch unterstützen, ist die Idee eines formellen NATO-Beitritts der Ukraine weiterhin stark umstritten. Selenskyj warb am Freitag neuerlich dafür. Dies sei die "beste Sicherheitsgarantie für die Ukraine", betonte er. "Wir sind vernünftige Leute und verstehen, dass wir kein einziges NATO-Land in einen Krieg hineinziehen werden", sagte der ukrainische Präsident. "Daher verstehen wir, dass wir nicht Mitglied der NATO sein werden, solange der Krieg andauert. Nicht, weil wir das nicht wollen, sondern weil es unmöglich ist."
Ein NATO-Beitritt Kiews würde bedeuten, dass die Ukraine unter den in Artikel 5 geregelten NATO-Bündnisfall fallen würde. Dieser sieht bei einem "bewaffneten Angriff" auf einen oder mehrere Mitgliedstaaten eine kollektive Antwort vor. Damit würde es zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen dem von den USA angeführten Bündnis und Russland kommen. Dies versuchen die beiden größten Atommächte der Welt bisher tunlichst zu vermeiden.
Selenskyj berichtete in seiner abendlichen Videoansprache über das Treffen mit dem estnischen Präsidenten Karis. Diesem dankte er für die Militärhilfe und den Zusammenhalt gegen die russische Aggression, aber auch für die Unterstützung bei den ukrainischen NATO-Ambitionen.
Selenskyj beklagte angesichts der andauernden nächtlichen russischen Raketen- und Drohnenangriffe erneut Probleme mit den Schutzbunkern in der Hauptstadt Kiew. Bürger beschwerten sich über den Mangel, über verschlossene Bunker und versiegelte Zugänge zu ihnen, kritisierte Selenskyj in seiner am Freitag veröffentlichten abendlichen Videobotschaft. In einigen Stadtteilen fehlten die Notunterkünfte ganz.
"Dieses Ausmaß an Nachlässigkeit in der Stadt kann nicht durch irgendwelche Rechtfertigungen gedeckt werden", sagte Selenskyj. Er wies die Regierung an, sich um eine Besserung der Lage zu kümmern. Nach allem, was am Donnerstag passiert sei in Kiew, sei dieser Zustand untragbar.
Selenskyj deutete in seiner Rede auch eine mögliche Staatsreform an. Er habe "mehrere Treffen" gehabt, bei denen es um die "Gestaltung unserer umfassenden Politik für die Zukunft" gegangen und "die weitere Transformation unseres Staates" sowie "unsere Beteiligung an globalen Entwicklungen" gegangen sei, meldete die Nachrichtenagentur Ukrinform.
In der Nacht waren Bewohner Kiews bei Luftalarm vor einem verschlossenen Schutzbunker gestanden, es gab drei Tote nach neuen russischen Angriffen, darunter ein neun Jahr altes Kind. Selenskyj hatte bereits aus diesem Anlass gefordert, dass eine ausreichende Zahl an Bunkern überall zugänglich sein müsse. Es sei die Pflicht der Gemeinden, dafür zu sorgen, dass die Schutzräume rund um die Uhr geöffnet seien. In Kiew hatte Bürgermeister Witali Klitschko die Öffnung sowie Kontrollen nach der Panne am Donnerstag angeordnet. Laut Selenskyj gab es aber neue Probleme.
Indes berichteten Medien in Kiew am Freitag, dass gegen vier Verantwortliche wegen des verschlossenen Zugangs zu einem Bunker einer medizinischen Einrichtung Strafverfahren eingeleitet worden seien. Die Staatsanwaltschaft von Kiew teilte mit, dass gemeinsam mit der Polizei der Zustand der Bombenschutzbunker überprüft werde. Geprüft werde auch, ob womöglich im Zuge des Krieges bereitgestellte Gelder zur Reparatur der Schutzräume veruntreut worden seien.
Der ukrainische Präsident informierte in seinem Video auch über ein Treffen mit seinen estnischen Kollegen Alar Karis, demdankte. Das baltische EU- und NATO-Land Estland grenzt ebenfalls an Russland. Selenskyj dankte Karis für die Unterstützung bei Kiews Streben in die NATO. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Kiew hatte er aber auch gesagt, dass die Ukraine, solange sie im Krieg sei, nicht Mitglied in dem Militärbündnis werden könne. Selenskyj sagte in seiner Videoansprache auch, dass er mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev über den Wiederaufbau der Ukraine gesprochen habe.
Zusammenfassung
- In einem seltenen Eingeständnis hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen NATO-Beitritt seines Landes vor dem Ende des Krieges als "unmöglich" bezeichnet.
- Sein Land verstehe, dass es kein NATO-Mitglied in einen Krieg hineinziehen werde, sagte Selenskyj am Freitag nach einem Treffen mit dem estnischen Präsidenten Alar Karis vor Journalisten.
- Selenskyj hofft beim NATO-Gipfel im Juli auf konkrete Beitrittszusagen für sein Land.