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Nobelpreisträger: "Russische Zivilgesellschaft nicht tot"

Der Vorsitzende des Memorial-Menschenrechtszentrums sieht den Friedensnobelpreis nicht nur als Preis für seine Organisation, sondern als Auszeichnung für die russische Zivilgesellschaft. "Die Zivilgesellschaft ist nicht tot", sagte Alexander Tscherkassow (Cherkasov) im Interview mit der APA. Trotz Auflösung von Memorial durch die russische Justiz und massiver staatlicher Repressionen setzten russische Aktivisten, Menschenrechtsanwälte und Bürgerrechtler ihre Arbeit fort.

Tscherkassow, der zum Anlass der Preisverleihung Global Peace Photo Award am Montagabend im Wien war, lobte die vielen Menschen, die in Russland "diese wichtige, gefährliche und heroische Arbeit leisten". Er selbst hat Russland vor etwa einem halben Jahr verlassen und arbeitet aus dem Ausland, zuletzt aus Georgien.

Der Menschenrechtsaktivist berichtete davon, dass zwei Millionen vertriebene Ukrainer in Russland untergekommen seien. Sie seien in vielen Regionen untergebracht, selbst im fernöstlichen Kamtschatka - viele von ihnen ohne Papiere, weswegen sie Russland nicht verlassen dürften. Oppositionelle in Gemeinden organisieren interregionale Hilfe für die Ukrainer, erklärte Tscherkassow. Die russische Zivilgesellschaft unterstütze mithilfe von Messangern und Chatbots die Weiter- und Ausreise der Menschen. Diesem "unsichtbaren" System gehörten allein in Moskau mehr als 8.000 Personen an.

Einen sichtbaren Einsatz für Menschenrechte gibt es dagegen in Russland kaum. Die Teilnahme an Anti-Kriegs-Manifestationen sei "zu gefährlich", sagte Tscherkassow. Angeblich anti-militaristische Äußerungen werden in mehr als 100 Fällen strafrechtlich verfolgt, hinzu kommen viele Tausend Verwaltungsstrafen wegen der Teilnahme an Demonstrationen. Bei zwei Verwaltstrafen werde die Angelegenheit zum strafrechtlichen Kriminalfall und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. 502 politische Gefangene stünden aktuell auf der Liste von Memorial, die trotz der Auflösung der Organisation weitergeführt werde. Eine weitere Bedrohung seien politische Morde. Denn obwohl die Todesstrafe in Russland seit 1996 nicht angewandt wird, verweist Tscherkassow auf Attentate und Vergiftungsanschläge gegen Journalisten, Anwälte, Menschenrechtsaktivisten und Oppositionelle wie Alexej Nawalny.

Die Arbeit im Nordkaukasus werde fortgesetzt, selbst nach der Ermordung der Leiterin des Memorial-Tschetschenien-Büros Natalja Estemirowa 2009, der Verhaftung ihres Nachfolgers Ojub Titijew Anfang 2018 und der Schließung des Büros in Grosny. Aktuell arbeiten die Menschenrechtler an einem Bericht über die Beteiligung von Tschetschenen am russischen Krieg gegen die Ukraine. Im Kriegsgebiet versuchten Memorial-Anwälte und andere russische NGOs Kriegsgefangene zu unterstützen. Aber dies sei sehr schwierig, der Zugang zu den besetzten Gebieten unmöglich. Hier kooperieren sie mit ukrainischen NGOs wie etwa dem Center of Civil Liberty, der Organisation, die zusammen mit Memorial und der belarussischen Menschenrechtsorganisation Wjasna im Dezember den Friedensnobelpreis 2022 überreicht bekommt.

Sehr kritisch äußerte sich Tscherkassow über die sogenannte "militärische Spezialoperation". Russland bekomme jeden Tag eine Milliarde Dollar durch den Handel mit Öl und Gas. "Russland kann den Krieg fortsetzen, die Sanktionen funktionieren nicht." Der Menschenrechtsaktivist ist zwar nicht für ein Aufheben der Sanktionen. Resultate brächten aber nur die Aktivitäten der Ukraine. "Die Ukrainer schützen die ganze Welt heute. Es braucht daher Unterstützung der Opfer der Aggression."

Den Ukraine-Krieg sieht Tscherkassow als eine Fortsetzung der Kriege in vielen postsowjetischen Republiken wie Transnistrien, Georgien, Tschetschenien und jetzt in der Ukraine. "Es ist notwendig, diese Reihe der Straflosigkeit zu beenden, um die Reihe der Kriege zu stoppen". Der russische Oberbefehlshaber in der Ukraine, Sergej Surowikin, selbst sei "ein Symbol der Straflosigkeit". Er sei für den Tod von Zivilisten während des "Augustputsches" am 21. August 1991 in Moskau verantwortlich. Diese Verbrechen wurden nie aufgeklärt.

Die Zuerkennung des Friedensnobelpreises sei "eine große Überraschung" gewesen, erzählte Tscherkassow. Schon sehr oft war Memorial nominiert worden. Memorial International setzt sich seit seiner Gründung 1989 für die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion ein. Die Organisation selbst sowie das Memorial Menschenrechtszentrum mussten aufgrund von Gerichtsurteilen vom Dezember 2021 aufgelöst werden. Nur wenige Stunden nach der Verkündung der Friedensnobelpreisträger am 7. Oktober ließ ein Moskauer Gericht die Moskauer Zentrale beschlagnahmen. Die Staatsanwaltschaft hatte beiden Memorial-Organisationen Verstöße gegen das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz vorgeworfen. Im Juni 2022 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), das Gesetz stelle einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar. Doch da war Memorial schon aufgelöst. Aktuell helfe dieses Urteil nicht, sagte Tscherkassow. Für ein künftiges neues Russland könnte es aber wichtig sein.

ribbon Zusammenfassung
  • Der Vorsitzende des Memorial-Menschenrechtszentrums sieht den Friedensnobelpreis nicht nur als Preis für seine Organisation, sondern als Auszeichnung für die russische Zivilgesellschaft.
  • "Die Zivilgesellschaft ist nicht tot", sagte Alexander Tscherkassow im Interview mit der APA.
  • Aktuell arbeiten die Menschenrechtler an einem Bericht über die Beteiligung von Tschetschenen am russischen Krieg gegen die Ukraine.
  • Doch da war Memorial schon aufgelöst.