Karners Weltblick: Ukrainischer Unabhängigkeitstag und Prigoschins Tod
Besonders die politisch-diplomatischen Schritte beider Kriegsparteien in den letzten Tagen böten dafür ebenfalls interessante Perspektiven. Und doch ist die Weltöffentlichkeit zunächst von einem Ereignis gefesselt, das dem Eigentümer der Privatarmee "Wagner", Jewgeni Prigoschin, gestern - also genau zwei Monate nach seinem schließlich abgebrochenen "Marsch der Gerechtigkeit" auf Moskau – sehr wahrscheinlich das Leben gekostet hat.
Eine Regierung mit mafiösen Zügen
Aber bei genauer Betrachtung fügt sich ohnehin auch dieses Ereignis nahtlos in das Gesamtbild, das Russland und der Krieg bieten: ein Land mit einer politischen Führung, die mafiose Züge trägt; ein Regime, das seine Bevölkerung in einen brutalen Überfall auf Nachbarländer hetzt, um krause imperiale Ziele zu verfolgen und dabei die eigenen Soldaten genauso rücksichtslos verheizt, wie sie gegen die Zivilbevölkerung des Gegners vorgeht; und eine Bevölkerung, über Jahre desinformiert und indoktriniert, die - apathisch und eingeschüchtert - nicht in der Lage ist, sich von diesem Regime zu befreien.
Aber eines nach dem anderen: Allein dass es Zweifel an der offiziellen Bestätigung des Todes von Prigoschin gibt, wirft schon ein bezeichnendes Licht auf die Glaubwürdigkeit des Kreml. Dass heute ein hoher Prozentsatz der offiziellen Informationen aus russischen Quellen im besten Fall als Desinformation, im schlechtesten als Lügen bezeichnet werden müssen, ist eine Folge der jahrelangen Verfolgung einer Informationsstrategie à la KGB/FSB, verstärkt durch weltweite und systematische Desinformation durch Trollfabriken im Cyberspace und auf Sozialen Medien. Gerade Firmen im Besitz von Prigoschin standen dabei an vorderster Front. Nichtsdestoweniger dürfte eine Vermutung, Prigoschin wäre beim Absturz seines Privatjets nicht getötet worden, sondern er selbst oder andere hätten so sein Verschwinden inszeniert, eine sehr unrealistische Spekulation sein.
Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er seines und der Gruppe Wagner Wirkens müde gewesen wäre, im Gegenteil, so waren in den Tagen vor seinem mutmaßlichen Tod noch Aufnahmen seines Auftritts (wahrscheinlich) in Afrika aufgetaucht, in denen er von den künftigen Missionen von Wagner auf diesem Kontinent sprach. Vielmehr fügt sich dieser Mordanschlag nahtlos in das Bild des Umgangs von Wladimir Putin mit „Verrätern“, wie er auch Prigoschin nach dem Marsch auf Moskau bezeichnet hatte, oder gefährlichen politischen Gegnern: Sie werden gnadenlos liquidiert. Die Morde an Anna Politkowskaja, Alexander Litwinenko, Boris Nemzow sowie Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten und die Mordversuche an Sergei Skripal und Alexander Nawalny bilden die sichtbare und eindrucksvolle Bilanz des Schreckens des Putin-Regimes. Vieles spricht daher dafür, dass Putin den Auftrag zur Liquidierung grundsätzlich freigab und die Details der Vorbereitung dann seiner Machtbasis, dem FSB, überließ, laufend über die Planungen informiert, wohlgemerkt. Der Tod der Besatzung und anderer Menschen wurde dann eben als „Kollateralschaden“ in Kauf genommen.
Starke Prigoschin-Loyalität
Für eine seriöse Beurteilung der Konsequenzen dieses Aktes ist es zweifellos noch zu früh. Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass die Gruppe Wagner nach ihrer Enthauptung als solche unter neuer Führung einfach ihre alten Umtriebe entfalten könnten. Zu stark waren die Loyalitäten der mittleren und oberen Führungsebenen zu Prigoschin und Dmitri Utkin, dem eigentlichen Gründer und militärischer Spitze von Wagner, der ebenfalls beim Absturz ums Leben gekommen sein soll. Dass manche Vertragssöldner zu anderen Privatarmeen einzelner Oligarchen wechseln, ist hingegen durchaus denkbar, eine Diversion der Aktivitäten im Cyberspace sowie in Afrika auf verschiedene Aufgabenträger ist denkbar, um die Macht Einzelner nicht wieder zu groß und für Putin bedrohlich werden zu lassen.
Im internen Machtkampf des Regimes scheinen sich vorerst Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimov durchgesetzt und ihre Position gestärkt zu haben. Welche Wirkung die Ermordung Prigoschins auf die mittlere und obere militärische Führung der russischen Streitkräfte, als deren Sprachrohr bei ihrer Kritik an der Art Führung des Krieges sich dieser immer wieder exponierte, bleibt allerdings abzuwarten. Auch in Teilen der Bevölkerung, bei der Prigoschin als aufrechter russischer Patriot und heldenhafter Eroberer von Bakhmut gilt, könnte seine Liquidierung Verunsicherung auslösen. Es ist jedenfalls nicht ausgemacht, dass das, was vordergründig als Zeichen der Putinschen Stärke und wuchtiges Signal an alle potenziellen Abtrünnigen vorgesehen war, sich letzten Endes nicht als weiterer Schritt der Erosion seines Regimes erweisen könnte.
BRICS-Treffen ohne Putin
An dieser Erosion konnte auch das von russischen Quellen vielbeschworene Gipfeltreffen der BRICS-Staaten in Südafrika nicht ändern. Bekanntlich konnte Putin selbst als einziger Staatschef der Gruppe daran nicht teilnehmen, weil das Gastgeberland verpflichtet gewesen wäre, ihn auf Basis des vom Internationalen Strafgerichtshofs ausgestellten Haftbefehls in Gewahrsam zu nehmen. Symbolisch dafür steht das Bild, auf dem sich die Präsidenten von Brasilien, China, Indien und Südafrika der Presse stellen, dazwischen am Boden ein kleiner Bildschirm mit dem zugeschalteten Wladimir Putin. Ohne die Ergebnisse des Gipfels vorwegnehmen zu können, gravierende Entscheidungen, im Sinne etwa einer gemeinsamen Währung, sind nicht zu erwarten, und die Einladung an Ägypten, Argentinien, Äthiopien, Iran, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zu einer Teilnahme an diesen Treffen ab 2024 stellt keinen Ersatz für substanzielle Ergebnisse dar.
Somit zurück zum Ausgangspunkt: Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erwiesen sich die letzten Tage politisch-diplomatisch äußerst erfolgreich: Im Zuge eines diplomatischen Parforceritts besiegelte er zunächst die Lieferung von insgesamt 61 Kampfflugzeugen durch die Niederlande und Dänemark im Rahmen von eindrucksvoll ablaufenden Staatsbesuchen in den beiden Hauptstädten, um dann einen besonderen politischen Erfolg zu feiern: Auf Einladung von Griechenland kam es in Athen im Rahmen eines Balkan-Ukraine-Gipfels, an dem auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel teilnahmen, nicht nur zu weiteren Unterstützungszusagen, sondern – politisch noch bedeutsamer – zu einer Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärung, in der die "unerschütterliche Unterstützung" für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine bekräftigt wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten die Staats- und Regierungschefs von Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, dem Kosovo, Kroatien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Rumänien, Serbien sowie das Gastgeberland Griechenland.
Europa dürfte offenbar geschlossener sein, als Wladimir Putin sich das wünscht. Und vielleicht liegt ein Grund, weswegen sich auch ehemalige Freunde von Russland abzuwenden beginnen, in der Erkenntnis, dass es potenziell gefährlich sein kann, mit einem Land verbunden zu sein, dessen Regime nicht nur lügt, desinformiert und Nachbarn brutal überfällt, sondern auch Morde in Auftrag gibt.
Und zum Unabhängigkeitstag ein herzliches "Slava Ukraini"!
Zusammenfassung
- Am heutigen Unabhängigkeitstag der Ukraine wäre es eigentlich angebracht, eine strategische Bilanz dieses größten Krieges in Europa seit dem Ende des 2. Weltkrieges zu ziehen und einen Ausblick zu wagen.
- Besonders die politisch-diplomatischen Schritte beider Kriegsparteien in den letzten Tagen böten dafür ebenfalls interessante Perspektiven.
- Und doch ist die Weltöffentlichkeit zunächst von einem Ereignis gefesselt, das dem Eigentümer der Privatarmee "Wagner" Jewgeni Prigoschin, gestern sehr wahrscheinlich das Leben gekostet hat.