Johnson appelliert in Schottland an Einheit der Nation
Entgegen aller Gepflogenheiten gab es dabei kein Treffen mit der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon, die die Loslösung von Großbritannien vorantreibt. Vielmehr betonte Sturgeon, Johnsons Trip aus London in die Hunderte Kilometer entfernten Städte Glasgow und Edinburgh während der Pandemie sei "nicht notwendig". Der Premierminister diene damit nicht als Vorbild.
In Schottland gelten wie in anderen Landesteilen scharfe Ausgangs-und Reisebeschränkungen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Dass Johnson dennoch fahre, zeige, dass er "in Panik" sei, hieß es aus Sturgeons Schottischer Nationalpartei (SNP).
In Schottland befürwortet Umfragen zufolge seit Monaten eine Mehrheit der Menschen die Unabhängigkeit. Ein Grund ist der Brexit: Bei der Abstimmung über den EU-Austritt 2016 hatten die Schotten klar für den Verbleib gestimmt. Sturgeon will Schottland zurück in die EU führen. In einem ersten Unabhängigkeitsreferendum hatte sich 2014 eine knappe Mehrheit gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen.
Eine zweite Volksbefragung lehnte Johnson am Donnerstag erneut vehement ab. "Ich glaube nicht, dass es richtig ist, endlos über ein weiteres Referendum zu reden", sagte der konservative Regierungschef in Glasgow. Die Frage sei für eine ganze Generation beantwortet worden. Sturgeon hingegen betont, wegen des EU-Austritts hätten sich die Voraussetzungen geändert.
Nun will Johnson vor allem mit dem Einsatz der Zentralregierung in der Coronavirus-Pandemie punkten. "Mein Fokus liegt darauf, die Pandemie zu bekämpfen", sagte der Premier. Die Regierung in London habe Wirtschaft und Gesundheitssystem in Schottland mit Milliarden Pfund unterstützt.
Passend dazu gab Johnson bekannt, dass das Biotech-Unternehmen Valneva an seinem Sitz im schottischen Livingston mit der Produktion eines Corona-Impfstoffs begonnen habe. "Wir haben uns 60 Millionen Dosen gesichert, die bis Jahresende geliefert werden sollen", twitterte Johnson. Voraussetzung sei die Zulassung des Impfstoffs.
Doch der Graben zwischen der Zentralregierung und der schottischen Führung ist groß. In London nutzte Staatsminister Michael Gove mehrere Interviews nicht nur, um den Besuch Johnsons zu verteidigen, sondern auch für Angriffe gegen die Regierung in Edinburgh. "Wenn der Premierminister andere Teile des Vereinigten Königreichs besucht, kritisieren ihn andere politische Führer nicht, sondern heißen ihn und andere Minister willkommen, die die Ärmel hochkrempeln und mit denen vor Ort in Kontakt treten", sagte Gove dem Sender Sky News. Auch die größte Oppositionsfraktion, die Labour-Partei, stellte sich hinter den Premierminister.
Im Zentrum steht aber die Person Johnson. Der Regierungschef sei "ein riesiges Plus" für die Einheit, sagte Gove der BBC. Dieses Argument aber könnte nach Ansicht von Experten nach hinten losgehen - schließlich war Johnson im Brexit-Streit das Gesicht der "Leave"-Bewegung - also des Lagers, das für einen Brexit war. "Schottland hat diese Tory-Regierung nicht gewählt, wir haben nicht für den Brexit gestimmt und sicherlich haben wir nicht Boris Johnson gewählt", sagte SNP-Vize Keith Brown.
Doch auch die Pandemie spielt eine wichtige Rolle - aber anders, als Johnson hofft. Wie der Politikwissenschafter John Curtice von der Glasgower Universität Strathclyde betont, ist nur ein geringer Teil der Schotten mit Johnsons Krisenmanagement in der Corona-Pandemie zufrieden. Seine Widersacherin Sturgeon erhält indes Bestnoten. Johnsons Besuch ist nun ein weiterer Teil im schottischen Drama. Was - um die Werke des großen Dichters William Shakespeare zu zitieren - als "Der Widerspenstigen Zähmung" geplant sein könnte, dürfte letztlich nur "Verlorene Liebesmüh" sein.
Zusammenfassung
- Gegen den Willen der Regionalregierung ist der britische Premierminister Boris Johnson am Donnerstag in den nach Unabhängigkeit strebenden Landesteil Schottland gereist.
- Der erst kurzfristig angekündigte Besuch - ohne Begleitung von Medienvertretern - war auch ein Appell zur Einheit des Landes.
- Sturgeon hingegen betont, wegen des EU-Austritts hätten sich die Voraussetzungen geändert.
- Johnsons Besuch ist nun ein weiterer Teil im schottischen Drama.