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Im Libanon droht Kollaps des Gesundheitssystems

Nicht nur die politische und wirtschaftliche Lage, sondern auch die humanitäre Situation im Libanon spitzt sich rasant zu. Es droht ein vollständiger Kollaps des Gesundheitssystems, warnt die NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF). Viele Patientinnen und Patienten könnten sich weder Medikamente noch Grundversorgungsmittel leisten, hieß es jüngst bei einem APA-Lokalaugenschein in Beirut. Zudem stellt die mangelnde Stromversorgung die Krankenhäuser vor große Herausforderungen.

Um Strom zu sparen, widmen sich viele Spitäler nur noch Notfällen und können keine chronisch Erkrankten mehr behandeln. Auch die in Betrieb genommenen Generatoren in den Spitälern, die die ständigen Stromausfälle kompensieren sollten, können aufgrund des dafür erforderlichen, aber mangelnd verfügbaren Treibstoffs, nicht mehr bedient werden.

"Spitäler müssen bereits ihre Leistungen rationieren und ihre Patienten priorisieren", erzählte Joao Martins, Leiter des Einsatzes von Ärzte ohne Grenzen im Libanon. "Nun könnten die Menschen durch völlig vermeidbare und heilbare Erkrankungen sterben, weil die Spitäler weder Strom noch Personal noch Medikamente oder medizinisches Equipment haben", so Martins.

Da die Wirtschaftskrise zu einer Inflation sowie zu einem rasanten Kursverfall geführt hat, werde es immer schwieriger, dringend benötigte Medikamente und weitere Produkte aus dem Ausland zu importieren. Gleichzeitig sei aber das Land auf Importe, vor allem im Gesundheitsbereich, angewiesen, berichten die Teams von Ärzte ohne Grenzen. Die meisten der erforderlichen Medikamente könnten nicht lokal produziert werden.

Die Versorgungskrise stellt die 1971 in Frankreich unter dem Namen Médicins Sans Frontières (MSF) gegründete Hilfsorganisation vor immense Herausforderungen. Noch vor einigen Tagen erlebte die Ärzte-ohne-Grenzen-Klinik in Bar Elias in der Bekaa-Ebene einen Stromausfall, der 44 Stunden andauerte. Somit musste das Operationsteam die chirurgischen Eingriffe um die Hälfte reduzieren sowie den Treibstoff rationieren, um gewährleisten zu können, dass die Teams auch auf Notfälle reagieren können.

Üblicherweise kooperiert "Ärzte ohne Grenzen" mit anderen Spitälern. Stabilisierte Pflegebedürftige werden meist dorthin überwiesen. Aber nun ist auch das schwierig geworden, da diese Spitäler, um Strom zu sparen, nur noch Notfälle behandeln können. Ein öffentliches Spital, das eng mit Ärzte ohne Grenzen zusammenarbeitet, teilte bereits mit, dass sie überwiesene Patienten nicht mehr aufnehmen können und dass sie auch ihr Angebot auf der Station für psychologische Hilfe runtergefahren haben, um den Stromverbrauch zu reduzieren.

Erst kürzlich sind Krebskranke auf die Straße gegangen, um gegen die Krise im Gesundheitssystem zu demonstrieren. Aufgrund der mangelnden Medikamente und der ständigen Stromausfälle können viele nicht mehr behandelt werden.

Ehemalige Patientinnen und Patienten von Ärzte ohne Grenzen, die bereits stabilisiert worden waren und aufgrund chronischer Erkrankungen in öffentlichen Spitälern behandelt wurden, kommen nun wieder zurück. Gleichzeitig kann die Organisation diese rasant steigende Anzahl an Bedürftigen jedoch nicht mehr behandeln und musste bei einer Klinik strenge Aufnahmekriterien etablieren.

"Während es gut ist, dass wir weiterhin jenen helfen können, die es am meisten benötigen, ist es dennoch schmerzhaft, dass wir nicht alle aufnehmen können", bedauerte Joanna Dibiasi, die das Hebammen-Team in der Geburtsklinik von "Ärzte ohne Grenzen" in Südbeirut leitet.

"Es ist sehr besorgniserregend, dass Menschen, deren gesundheitliche Lage bereits stabilisiert wurde, wieder in einer kritischen Situation sind, da sie keinen Zugang zu den Medikamenten erhalten", führte Dibiasi weiter aus.

Sogar Spitäler, welche die Behandlung von Schwangeren angenommen haben, fragen nun bei der NGO an, ob sie die Patientinnen mit Oxytocin und Magnesium - Medikamente, die wichtig sind um nachgeburtliche Probleme zu behandeln -, versorgen können.

"Leider sind wir nicht immer in der Lage zu helfen. Die Kapazitäten in unseren Kliniken sind limitiert. Auch wenn wir zusätzliche Bestellungen von Medikamenten aufnehmen, würde es aufgrund von Verspätungen und des Verfahrens bei Importen lange brauchen. Aufgrund des komplizierten und auch oft chaotischen Verfahrens bei Medikamentenlieferungen dauert es oft um die acht Monate bis diese tatsächlich im Land verfügbar sind. Diese Zeit ist im Kontext der jetzigen Gesundheitskrise einfach viel zu lange", beschrieb Diabiasi die verzweifelte Lage.

Die Krise zeigt sich auch daran, dass immer mehr Patienten, während sie in medizinischer Behandlung sind, um Nahrungsmittel und Grundversorgungsmittel bitten, berichtete "Ärzte ohne Grenzen" außerdem.

In der Bekaa Ebene ist im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl der zu Behandelten um 60 Prozent gestiegen und die Anzahl an libanesischen Patienten hat sich verdoppelt. "Dieser Anstieg ist alarmierend, da wir unser Limit an medizinischem Personal pro Patient erreicht haben und sich damit die Qualität der Behandlung auch verschlechtern könnte", erklärte Céline Urbain, Projektkoordinatorin des MSF-Projektes in der Bekaa Ebene.

Die jetzige Gesundheitskrise ist aber auch menschengemacht. Nach wie vor konnte seit dem Rücktritt der Regierung vor einem Jahr nach der Hafenexplosion, keine Regierung gebildet werden. Zuletzt ist der frühere libanesische Ministerpräsident Saad al-Hariri aufgrund der großen Differenzen zwischen den Vorstellungen des Präsidenten sowie der einzelnen Parteien daran gescheitert. Auch der nun designierte Ministerpräsident Najib Mikati schaffte es bisher nicht, eine Regierung zu bilden. Verhandlungen laufen.

"Was im Libanon passiert, zeigt, dass jahrelange systematische Korruption und fehlende Strafverfolgung Spitäler zerstören können, genauso wie bei Kriegen oder Naturkatastrophen. Das politische Vakuum im Land ist nicht nur Auslöser der jetzigen Krise im Gesundheitssystem, sondern es werden auch Lösungen blockiert. Die Behörden müssen jetzt handeln, um eine weitere Verschärfung der Konsequenzen für die Bevölkerung zu vermeiden", beklagte Joao Martins, Einsatzleiter von "Ärzte ohne Grenzen" im Libanon, die verfahrene Situation.

Martins plädiert an die libanesischen Verantwortlichen so rasch wie möglich Schritte zu setzen: "Während wir medizinische Versorgung denen bereitstellen, die es am meisten benötigen, müssen die erforderlichen Aktionen von den libanesischen Behörden unternommen werden, um sicherzustellen, dass die medizinische Grundversorgung die Bevölkerung auch erreicht. Sie müssen handeln, Medikamente, medizinisches Equipment sowie Treibstoff muss der Bevölkerung zugänglich gemacht werden. Humanitäre Hilfsorganisationen können das Gesundheitssystem eines ganzen Landes nicht ersetzen."

ribbon Zusammenfassung
  • Nicht nur die politische und wirtschaftliche Lage, sondern auch die humanitäre Situation im Libanon spitzt sich rasant zu.
  • Es droht ein vollständiger Kollaps des Gesundheitssystems, warnt die NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF).
  • "Spitäler müssen bereits ihre Leistungen rationieren und ihre Patienten priorisieren", erzählte Joao Martins, Leiter des Einsatzes von Ärzte ohne Grenzen im Libanon.
  • Stabilisierte Pflegebedürftige werden meist dorthin überwiesen.