Netanyahu: Chefankläger ist "einer der großen Antisemiten"
In einer am späten Montagabend veröffentlichten Videobotschaft auf Englisch sagte Netanyahu, Khan gieße "hartherzig Öl in die Feuer des Antisemitismus, die auf der ganzen Welt wüten". Netanyahu verglich Khan sogar mit den NS-Scharfrichtern. "Er steht nun Seite an Seite mit jenen berüchtigten deutschen Richtern, die ihre Roben anzogen und für Gesetze eintraten, die dem jüdischen Volk die elementarsten Rechte verweigerten und es den Nazis ermöglichten, das schlimmste Verbrechen der Geschichte zu begehen."
Netanyahu sagte, er habe vor zwei Wochen während des Holocaust-Gedenktags in Israel gelobt: "Kein Druck und keine Entscheidung irgendeines internationalen Forums werden Israel davon abhalten, sich selbst zu verteidigen gegen jene, die uns zerstören wollen."
"Vor achtzig Jahren war das jüdische Volk vollkommen wehrlos gegen unsere Feinde", sagte Netanyahu. "Diese Zeiten sind vorbei: Jetzt hat das jüdische Volk einen Staat und wir haben eine Armee, um unseren Staat zu verteidigen."
Auch Verteidigungsminister Gallant hat den Antrag auf Haftbefehle gegen ihn und Netanyahu verurteilt. "Der Versuch des Chefanklägers Karim Khan, die Dinge umzudrehen, wird keinen Erfolg haben", sagte Gallant am Dienstag nach Angaben seines Büros. "Die Parallele, die er zwischen der Terrororganisation Hamas und dem Staat Israel gezogen hat, ist abscheulich."
Israel erkenne die Autorität des Gerichts nicht an, sagte Gallant weiter. Khan wolle dem Staat Israel das Recht auf Selbstverteidigung und die Rückholung der Geiseln verweigern.
Israel kämpfe gegen eine brutale Terrororganisation, die Gräuel an israelischen Kindern, Frauen und Männern begangen habe und die jetzt ihr eigenes Volk als Schutzschild missbrauche, sagte Gallant. "Die israelische Armee kämpft im Einklang mit internationalem Recht und unternimmt beispiellose Maßnahmen, um humanitäre Hilfe zu erleichtern."
Der Chefankläger Khan verfolgt Verbrechen während des Gaza-Kriegs. Netanyahu und Gallant werden von ihm unter anderem beschuldigt, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung sowie für willkürliche Tötungen und zielgerichtete Angriffe auf Zivilisten verantwortlich zu sein.
Khan beantragte Haftbefehle auch gegen den Gaza-Chef der Hamas, Yahya al-Sinwar, den Auslandschef Ismail Haniyeh sowie gegen Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif.
Die palästinensische Botschaft in Wien lobte die Entscheidung, auch gegen Israelis vorzugehen. "Wir begrüßen es sehr, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle gegen Galant und Netanyahu beantragt hat", so Botschafter Salah Abdel Shafi in einer Aussendung am Dienstag. Er forderte, ebenso israelische Siedler und weitere Politiker verantwortlich zu machen. Auf die Vorwürfe gegen Hamas-Mitglieder ging die Mitteilung nicht ein.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bestreitet, dass die Gräueltaten der Terroristen auch nur im Entferntesten mit Israels Kriegsführung zu vergleichen wären. "Die Bundesregierung weist jeden Anschein von Vergleichbarkeit auf das Entschiedenste zurück", sagte ein Scholz-Sprecher der Bild"-Zeitung (Mittwoch).
Frankreich hat dem Internationalen Strafgerichtshof den Rücken gestärkt. "Frankreich unterstützt den Internationalen Strafgerichtshof, seine Unabhängigkeit und den Kampf gegen Straflosigkeit in allen Situationen", teilte das französische Außenministerium in der Nacht auf Dienstag mit.
Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) erklärte am Dienstag in Brüssel, sie erkenne die Unabhängigkeit des Gerichtshofs an und habe volles Vertrauen in die Richter. Es sei aber "sehr eigentümlich, wenn hier in einem Atemzug der Premierminister eines demokratischen Staates genannt wird mit Hamas-Terroristen, die ein Massaker verursacht haben das seinesgleichen sucht in der Geschichte".
Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, pochte in einer Aussendung auf die Einhaltung internationaler Regelungen. "Das Völkerrecht und die Menschenrechte gelten immer und überall. Alle Vorwürfe über schwere Verbrechen müssen unabhängig untersucht und strafrechtlich verfolgt werden, ganz egal von wem sie ausgehen oder angeordnet wurden." Richterliche Entscheidungen müssten aber abgewartet werden.
Nach Angaben der US-Regierung hat IStGH-Ankläger Khan einen geplanten Besuch in Israel kurz vor der Beantragung der Haftbefehle im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg abgesagt. Die Reise Khans nach Israel sei für die kommende Woche geplant gewesen, hieß es in einer am Montag (Ortszeit) veröffentlichten Mitteilung von US-Außenminister Antony Blinken. Dabei sollte Khan mit der israelischen Regierung eigentlich noch über die Ermittlungen sprechen und auch ihre Sicht hören.
Die Mitarbeiter des Chefanklägers sollten demnach bereits am Montag in Israel landen, um den Besuch vorzubereiten. Dass sie nicht an Bord ihres Flugzeugs gegangen seien, habe die israelische Regierung erst erfahren, als die Anträge zu den Haftbefehlen im Fernsehen verkündet wurden. "Diese und andere Umstände stellen die Legitimität und Glaubwürdigkeit dieser Untersuchung in Frage", hieß es in der Mitteilung.
Der Strafgerichtshof ging auf Anfrage nicht auf Berichte über eine mögliche Reise des Chefanklägers oder seiner Mitarbeiter nach Israel ein. Er betonte aber, dass der Chefankläger sich seit drei Jahren bemühe, den Dialog mit Israel zu verbessern und Informationen zu erhalten, die für die Ermittlungen des Strafgerichtshofs relevant seien. "Trotz erheblicher Bemühungen hat die Anklagebehörde keine Informationen erhalten, aus denen hervorgeht, dass auf innerstaatlicher Ebene wirklich etwas gegen die vorgeworfenen Verbrechen oder die Personen, gegen die ermittelt wird, unternommen wird."
Auch aus Berlin kam Kritik an dem Vorgehen. "Ein schwarzer Tag für das Völkerrecht", schrieb der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, am Dienstag auf der Plattform X. "Der Chefankläger des IStGH macht sich zum Büttel derjenigen, die skrupellos eine Gleichsetzung des Hamas-Terrors mit dem Verteidigungsrecht des attackierten Staates Israel vornehmen."
Die deutsche Regierung begrüßte die Anträge gegen Hamas-Führer, warnte aber gleichzeitig zur Vorsicht bei der Verurteilung Israels. "Die Vorwürfe des Chefanklägers schwer und müssen belegt werden", teilte ein Regierungssprecher am Dienstag auf Anfrage mit. Israels Botschafter in Berlin war das zu wenig. Ron Prosor kritisierte "die wachsweichen Statements" und appellierte an den deutschen Staat: "Jetzt steht die Staatsräson auf dem Prüfstand - ohne Wenn und Aber."
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Karim Khan, hatte am Montag einen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Israels Regierungschef Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant beantragt. Auch für den Anführer der islamistischen Hamas im Gazastreifen, dessen Stellvertreter sowie gegen den Auslandschef der Hamas wurden Haftbefehle beantragt.
Bei den Attacken der Hamas im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober waren rund 1.200 Menschen getötet und mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden. Der Terroranschlag war Auslöser für die militärische Offensive Israels im Gazastreifen, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 35.500 Menschen getötet worden sind.
Zusammenfassung
- Benjamin Netanyahu wirft dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, Antisemitismus vor, nachdem dieser Haftbefehle gegen ihn und Verteidigungsminister Yoav Gallant beantragt hat.
- Israel erkennt die Autorität des Gerichts nicht an und behauptet, das Recht auf Selbstverteidigung und die Rückholung der Geiseln werde ihnen verweigert.
- Die palästinensische Botschaft in Wien begrüßt die Entscheidung, auch gegen Israelis vorzugehen, während verschiedene Länder wie Frankreich den Gerichtshof unterstützen.
- Der geplante Besuch von Karim Khan in Israel wurde kurz vor der Beantragung der Haftbefehle abgesagt, was Fragen zur Glaubwürdigkeit der Untersuchung aufwirft.
- Die Anklagen richten sich auch gegen führende Mitglieder der Hamas, die für den Terroranschlag am 7. Oktober verantwortlich sind, bei dem 1.200 Menschen getötet und mehr als 250 als Geiseln genommen wurden.