Experte sieht wegen Ukraine-AKW kaum Gefahr für Österreich
Sechs Reaktoren der Baureihe WWER-1000/320 zählt die rund 1.000 Kilometer von Österreichs Grenze entfernte Anlage in der östlichen Ukraine. "Das ist der gleiche Reaktortyp, wie er in Temelin verwendet wird", sagte der Wissenschafter vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien. Es handle sich um einen Druckwasserreaktor, der mit Systemen westlicher Bauart vergleichbar und in vielen Kraftwerken im Einsatz ist.
Der Reaktor-Typ sei jedenfalls "ganz anders als der Typ 'Tschernobyl'", sagte Müllner. So haben diese Systeme "eine Eindämmung um den Reaktor herum, um jegliche radioaktive Freisetzung zu stoppen. Im Gegensatz zu Fukushima haben diese WWER-Reaktoren getrennte Wasserkreisläufe, um den Reaktor zu kühlen und Dampf zu erzeugen", so der Kernkraftexperte Tony Irwin von der Australian National University gegenüber dem deutschen Science Media Center (SMC).
Ein Kampf um ein AKW sei deshalb so beunruhigend, weil die Kraftwerke nicht auf einen militärischen Konflikt ausgelegt sind. Bei der Risikoeinschätzung etwa hinsichtlich allerlei Naturgefahren werde eine lange Liste abgearbeitet - eine kriegerische Auseinandersetzung sei nicht darunter, erklärte Müllner.
"Bleibt das Kraftwerk intakt, hat es Sicherheitssysteme, die auch automatisch anspringen und agieren." Einige Zeit könne die Anlage also auch ohne die Interventionen von Operateuren auch mit etwaigen Unfallfolgen umgehen. Ein solcher dürfte nicht eingetreten sein, da laut Berichten bisher nur Nebengebäude beschossen wurden.
Sollte das Werk vom Netz getrennt werden, würde das AKW jedenfalls automatisch heruntergefahren. Das ist laut Angaben der Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) bei einigen Blöcken auch bereits passiert. Der Atomexperte der Umweltschutzorganisation Greenpeace, Heinz Smital, geht in einem Tweet davon aus, dass nur noch Block 4 läuft und das Feuer das Schulungscenter betrifft. Die Gefahr einer Kernschmelze bestehe nicht unmittelbar. "Tschernobyl hatte einen Graphitkern, brachte Radioaktivität in große Höhen und weite Verteilung bis Europa, das ist hier nicht der Fall." Die Situation sei aber trotzdem kritisch, berichtet die Deutsche Presseagentur (dpa).
Laut Müllner übernehmen in Saporischschja nun vermutlich die Notstromaggregate die Nachkühlung der Reaktoren. Müllner: "Dass alles bis zu einem gewissen Grad automatisch. Dazu müssen aber die Sicherheitssysteme weitgehend funktionsfähig bleiben. Es darf bei einem Reaktor nicht passieren, dass diese Systeme bei Kämpfen beschädigt werden und nicht zur Verfügung stehen." Verliert man den Netzanschluss und den Notstrom, "habe ich eine Situation wie in Fukushima".
Für den weiteren Betrieb der Anlage brauche es rund 30 speziell ausgebildete Mitarbeiter, schätzt Müllner. Er geht davon aus, dass die Betriebsmannschaft nach der Übernahme vor Ort bleiben wird. Dass hier ein komplett neues Team aus Russland herangeführt wird, glaubt Müllner nicht. Jedes Kraftwerk habe auch "seine Eigenheiten", daher könne man die Operateure nicht so einfach austauschen.
Würde der Fall eintreten, dass dort Radioaktivität austritt, müsste man es schon mit einem "unwahrscheinlichen" großen Unfall zu tun haben, dass in Österreich gesundheitsschädliche Auswirkungen zu befürchten sind. Wird Strahlung freigesetzt, könne man es mit den hierzulande "extrem feinen" Messgeräten detektieren, "auch wenn wir noch weit weg von einer gesundheitlichen Gefährdung sind". Käme das Kraftwerk aber selbst unter Beschuss und der Kern der Anlage würde gezielt vernichtet, könnte es natürlich auch zu größeren Freisetzungen kommen.
Bei einem Ausfall des Kraftwerks wäre das vor allem für die Energieversorgung der Ukraine ein großes Problem, so Müllner: "Für das europäische Netz spielt es eher eine untergeordnete Rolle." Mit einer elektrischen Leistung von sechs Mal fast 1.000 Megawatt bestehe die Gefahr, dass etwa die Industrie in der Ukraine heruntergefahren werden muss. Man dürfe aber nicht vergessen, dass das Land noch über drei weitere AKWs verfügt.
Prinzipiell sind Kernkraftwerke in Kriegsgebieten ein großes Problem, weil sie verletzbare wichtige Objekte sind. In einem solchen Fall könne leider auch die IAEA und die Internationale Gemeinschaft nicht viel mehr tun, als zu appellieren, solche Kraftwerke nicht zu beschädigen, sagte Müllner: "Nach den Berichten bis jetzt ist zum Glück nichts unmittelbar passiert."
Zusammenfassung
- Für eine militärische Übernahme eines AKW, wie sie den russischen Truppen offenbar nun erfolgreich beim ukrainischen Kernkraftwerk Saporischschja gelang, gebe es "keinen Präzedenzfall", sagte der Risikoforscher Nikolaus Müllner zur APA.
- Er blicke "sehr beunruhigt" in Richtung Europas größtem AKW, da solche Anlagen gegen viele Bedrohungen ausgerichtet sind, für militärische Angriffe jedoch nicht.