Bundespräsident Van der Bellen: TV-Ansprache zum Nationalfeiertag 2020 im Wortlaut
Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die hier leben.
Ich möchte heute ein paar Beobachtungen mit Ihnen teilen. Meine Gedanken, Befürchtungen, meine Hoffnungen. Ich fühle, dass sich vieles verändert. Einerseits ist es zu früh, um genau beurteilen zu können, in welche Richtung die Reise geht. Andererseits können wir das Ziel dieser Reise ja selber mitbestimmen. Wenn wir aufmerksam bleiben.
Ja, wir befinden uns tief in einer weltweiten Pandemie, die direkt eines der menschlichen Grundbedürfnisse angreift: Das Bedürfnis nach Sicherheit und Nähe. Nach gegenseitigem Vertrauen. Nach sozialem Austausch. Nach Gemeinschaft.
Gerade der Nationalfeiertag ist normalerweise ein Tag, an dem sich viele Menschen in unserem Land treffen und miteinander freuen. Auch ich vermisse heute diese Begegnungen, auch hier in der Hofburg.
Und ich spreche sicher für viele, wenn ich sage: Diese Pandemie geht uns allen ordentlich auf die Nerven. Sie ist eine Belastung für uns alle. Aber werden wir uns davon unterkriegen lassen? Nein, natürlich nicht. Österreich wird das bewältigen. Miteinander.
Für den Augenblick ist es notwendig, die Situation zu akzeptieren, wie sie ist. Damit wir frei sind, den nächsten Schritt zur Bewältigung zu machen.
Meine Damen und Herren!
Viel wird im Augenblick über Sinn und Unsinn der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus gesprochen. Das ist gut, weil reden immer gut ist. Aber bitte beachten Sie: Dieses Virus ist weder rot noch blau, noch türkis oder grün oder pink oder welcher Farbe auch immer. Nein, es ist einfach nur: ein Virus. Und wir bekommen es nur mit faktenbasiertem Handeln in den Griff. Und mit rechtzeitiger, verständlicher, nachvollziehbarer Kommunikation.
Es wird uns nicht helfen, wenn wir wechselseitig Schuldige suchen. Bekämpfen wir diese Pandemie mit Wissenschaft, Vernunft und Mitgefühl. Und bleiben wir in unserer Sprache respektvoll. Sprache schafft Bewusstsein und Realität. Das Bewusstsein und die Realität unserer Demokratie.
Und noch etwas: Es ist unübersehbar, dass gerade viel Wut entsteht. Wut und auch Angst. Wut und Angst sind schlechte Ratgeber. Sie vernebeln unser Denken und leiten unser Handeln in falsche Richtungen. Wie wäre es, wenn wir die Wut einfach sein lassen würden? Und zur Kenntnis nehmen, dass diese Pandemie nicht die Absicht von irgendjemandem ist? Und dass wir trotz allem miteinander und nicht gegeneinander handeln müssen.
Versuchen wir, unsere Ungeduld in etwas Positives umzuwandeln. Versuchen wir, unsere Wut nicht an denen auszulassen, die uns nahestehen. Versuchen wir, geduldig miteinander zu sein. Und mit uns selber. Und bleiben wir aufmerksam, bleiben wir wachsam. Bleiben wir menschlich.
Meine Damen und Herren!
Mir macht Hoffnung, wie viele von uns gut mit der Situation umgehen. Ich danke allen, die sich an die Coronaregeln halten. Sie wissen schon: Hände waschen, Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz tragen, Stopp-Corona App verwenden und die anderen wichtigen Massnahmen einhalten.
Weiters danke ich allen, die unsere Gesellschaft in dieser schwierigen Zeit am Laufen halten. In den Betrieben, Pflegeeinrichtungen, Schulen, der Verwaltung, den Spitälern und Arztpraxen, den vielen ehrenamtlichen Vereinen, und anderen wichtigen Orten.
Es macht mich zuversichtlich, dass wir auch in Europa – nach anfänglichen Schwierigkeiten – wieder mehr zueinander finden. Zum Beispiel mit dem größten Investitionspaket in der Geschichte Europas:
750 Milliarden Euro. Das ist nicht nichts. Das ist die Basis für eine Zukunft, in der unser Land, unser Kontinent, wieder aufblühen werden. Davon bin ich felsenfest überzeugt.
Und wenn wir uns in einem Jahr, am 26. Oktober 2021, an dieser Stelle wiedersehen, dann haben wir hoffentlich das Schlimmste hinter uns. Dann werden wir zurückblicken auf diese unwirkliche Zeit und sagen können: Wir haben niemals, auch in der schwierigsten Zeit nicht, unsere Vernunft, unser Mitgefühl, unsere Gemeinschaft vergessen. Denn darauf ist unsere wunderschöne Heimat gebaut. Und welcher Tag wäre besser geeignet, sich daran zu erinnern als unser Nationalfeiertag?
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Zusammenfassung
- Im Rahmen seiner Rede zum Nationalfeiertag sprach Bundespräsident Alexander Van der Bellen aus den Herzen vieler Österreicherinnen und Österreicher. Die Rede im Wortlaut.