"Alles Böse aus Russland" in verwüsteter Charkiwer Vorstadt
Die Ausfahrtsstraße Richtung Norden bzw. Nordosten der Stadt ist gesäumt von Autoverkaufshäusern, die allesamt zerstört wurden - besonders jene von VW, Lexus und Mitsubishi hat es schwer getroffen. Das fällt einem Besucher des Landes kaum mehr auf, außergewöhnlich sind eher die wenigen nicht in Mitleidenschaft gezogenen Gebäude.
Binnen Minuten hat man sich an die Artilleriegeräusche gewöhnt. Trotz des Lärms, den das Auto auf den miesen Straßen macht, hört man die "Trommeln des Krieges" durch die geschlossenen Autofenster. Die Anspannung wird durch den Musikgeschmack des lokalen Fahrers etwas gelöst. Sergej arbeitete einige Jahre in Oberösterreich und ist in Christina Stürmer verliebt. "Nicht nur musikalisch", meint er augenzwinkernd. Mit "Engel fliegen einsam" geht es immer näher Richtung Frontlinie.
Die Straße, an der es kein Weiterkommen gibt, konnte man vielleicht in der Vergangenheit einmal als solche bezeichnen - zu erkennen ist davon mittlerweile nur noch wenig. Schutt liegt auf Untergrund, an dem kaum noch Beton zu sehen ist, Panzersperren und Betonblöcke versperren den Weg, links und rechts davon nichts als Zerstörung. Nur einige hundert Meter entfernt stehen die russischen Truppen - wie weit genau, verändert sich hier laufend. Der Beschuss wird unterdes immer lauter wahrnehmbar.
15 Kilometer nordöstlich der Charkiwer Innenstadt ermöglicht das ukrainische Militär die Einfahrt in eine Siedlung am äußersten Rand des Stadtteils Saltiwka, den vor dem Krieg einerseits eine knappe dreiviertel Million Menschen bewohnten, der jedoch andererseits am stärksten zerstört wurde und mittlerweile einer Geisterstadt gleicht. Die russische Staatsgrenze ist nur 25 Kilometer entfernt.
Gegangen werden darf hier nur dort, wo die ukrainischen Soldaten ihre Schritte tätigen. "Keinen halben Meter links oder rechts davon - Minengefahr." Die Blicke der Anwesenden frieren ein. Jeder hat hier in der Ukraine in den vergangenen Wochen schon viel gesehen, die großflächige Zerstörung Saltiwkas ist jedoch eine besonders grausliche. Keine Tiere sind zu hören, nicht einmal Vögel zwitschern. Die einzige Konstante ist der andauernde Artillerielärm.
Der Häuserblock ist stark zerstört. Nicht vorstellbar, dass hier überhaupt noch irgendwann jemand leben wird können. Laut ukrainischem Militär haben so gut wie alle Menschen, die einmal hier wohnten, die Gegend verlassen. In ganz Saltiwka soll nur noch ein niedriger einstelliger Prozentsatz der ehemals bis zu 800.000 Einwohner versteckt leben. "Vorwiegend Alte", heißt es. Der Rest der Überlebenden sei geflohen. Einige harren in den Metrostationen aus, andere seien bei Verwandten und Freunden in anderen Teilen der Oblast untergekommen, der Großteil aber hat die Ostukraine verlassen.
Ein vermummter ukrainischer Soldat beobachtet mit der Hand am Abzug seines Gewehrs jeden Schritt vor Ort. Das Funkgerät hat er auf der Schulter an seiner Splitterschutzweste angebracht, immer wieder hält er Rücksprache mit seinen Vorgesetzten. Auf der Brust trägt er einen Badge mit seiner Blutgruppe drauf. "Das ist der Krieg", meint er nüchtern. Wie so vieles hier wirkt auch sein Auftreten irgendwie absurd, seine Schildkappe und die gar intellektuell wirkende Brille passen nicht zur restlichen Aufmachung und zur Stimmung vor Ort.
Ein knapp 80-jähriger Mann kommt vormittags hier her. Nach der ukrainischen Gegenoffensive will er nun nachsehen, wie seine Wohnung aussieht. Als er dies vor dem zerbombten und ausgebrannten Hochhaus erzählt, wird er bemitleidet - hier kann nichts mehr bewohnbar sein. Er verschwindet im Haupteingang, neben dem groß mit Graffitis auf Ukrainisch das Wort "Menschen" an die Wand gesprüht wurde.
Einer der Soldaten ist nicht vermummt. Der 24-jährige Ewgenyj wirkt ganz anders als die restlichen Soldaten hier. In ungewöhnlich gutem Englisch erzählt der Mann mit Sonnenhut am Kopf und Waffe in der Hand vor den Ruinen: "Was hier passierte? Das ist das Ergebnis der russischen Invasion, der russischen Bomben, der russischen Raketen. Das sind keine guten Menschen - alles Böse aus Russland ist hier." Der junge Mann wirkt abgebrüht, auch die lauten Explosionen während des Gesprächs scheinen ihn nicht aus dem Konzept zu bringen. "Das ist unsere Armee, das ukrainische Militär. Wir drängen die Russen weiter zurück bis zu ihrer Grenze, für die Freiheit unseres Territoriums."
Auf die Frage, ob er und seine Kameraden hier in und um Charkiw tatsächlich gewinnen könnten, reagiert er siegessicher. "Ja, das wird passieren. Ich weiß nur nicht, wie lange es dauern wird." Über die Todeszahlen in der Stadt schweigt er - bewusst oder unbewusst. "Ich weiß es nicht, das ist ein Militär-Geheimnis. Ich habe dazu keine Informationen. Ich bin kein General, nur ein kleiner Soldat."
Nach einigen Minuten kommt der ältere Mann von vorhin wieder aus dem Haus. Selbstsicher schreitet er aus dem Eingangsbereich. Als hätte gar keine andere Möglichkeit bestanden, kommentiert er kurz, dass seine Wohnung noch bewohnbar sei, nur die Fensterscheiben hätten den Druckwellen nicht standgehalten, der Balkon sei zerstört. Sollten die Kämpfe etwas abflauen, könne er sich eine Rückkehr in sein Heim vorstellen. Dass all die Wohngebäude wohl wegen Einsturzgefahr großräumig abgerissen werden könnten, wollte ihm noch niemand sagen.
Zusammenfassung
- Der Name dieser zweitgrößten Stadt der Ukraine ist im Verlauf des aktuellen Krieges ein eher stiefmütterlich behandelter.
- "Vorwiegend Alte", heißt es.
- Ein vermummter ukrainischer Soldat beobachtet mit der Hand am Abzug seines Gewehrs jeden Schritt vor Ort.
- Der 24-jährige Ewgenyj wirkt ganz anders als die restlichen Soldaten hier.
- Das ist das Ergebnis der russischen Invasion, der russischen Bomben, der russischen Raketen.