Zweiter Tag beim Bachmann-Preis mit Müttern und Geschichte
Zum Auftakt des zweiten Lesetages der 47. Tage der deutschsprachigen Literatur entführte die 1979 in München geborene Sophie Klieeisen nach Berlin: In ihrem von Philipp Tingler eingeladenen Beitrag "Taube Früchte" widmet sie sich der Eröffnungsfeier des Humboldt Forums in Berlin, wo eine rätselhafte Figur namens Greta auftaucht. Der Text taucht dabei tief in die deutsch-deutsche Geschichte ein: "So sah das dann aus, Vergehen und Verbrechen. Absicht und Abbild. Tausend Jahre und kein Zweifel, warum hier jetzt endlich wieder dieser Bau stand. Zeiten gewendet", heißt es in dem Text.
Die Jurydiskussion kreiste vor allem um die Frage, ob es sich hierbei um eine Reportage handelt und wenn ja, ob die Literarizität gegeben sei. Während Mara Delius hier einen "durch und durch literarischen Text" sah und die "ganz klar komponierte erzählerische Form" lobte, ortete ihr Schweizer Kollege Thomas Strässle "Züge einer Reportage", freute sich aber, dass der Literaturbegriff des Bachmann-Preises dadurch geweitet werde. "Literarisch sehr beeindruckend auch in der Rhythmisierung" fand Mithu Sanyal den Beitrag der Autorin, sie selbst habe allerdings keine emotionale Nähe zum Text gefunden. Brigitte Schwens-Harrant plädierte ebenfalls für die Erweiterung des Literaturbegriffs durch die Form der Reportage und freute sich über einen "interessanten Blick in die politische Geschichte eines Landes".
Tingler beharrte als Einladender auf die Literarizität und ordnete den Text dem Genre der Gesellschaftsprosa zu. Für ihn tritt die Figur der Greta als Teufel auf. "Es geht um eine Gesellschaft, die in den Pirouetten ihrer Geltungsdiskurse gefangen ist." Auch für Strässle ist der Text eine "Satire auf kulturelle Anlässe", für Juryvorsitzende Insa Wilke ist es "eine Beschreibung eines Aktes konservativer Identitätspolitik". Sie habe einige Schwierigkeiten mit dem Text gehabt, ihr habe eine Bruchstelle gefehlt. "Spannend und gut gemacht" fand Klaus Kastberger den Beitrag, der Fakten mit Fiktionen mische. Für ihn wurde darin vor allem eine unterschwellige Bedrohung der Schicht der Hochkultur und Politik sichtbar.
Als Zweiter las der 1990 geborene polnisch-deutsche Autor Martin Piekar, der auf Einladung von Kastberger nach Klagenfurt gekommen ist. In seinem Text "Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk" (sic!) erzählt er in der Ich-Form von einem jungen Mann, der mit seiner alkoholkranken Mutter in einer kleinen Wohnung lebt und in den Wahnsinn getrieben wird, weil die Mutter neben dem laufenden Fernseher stets lautstark mit den Wänden spricht, bevor sie nach einem lauten Schrei ihre eigene Migrationsgeschichte erzählt. Die eingeflochtenen musikalischen Metal-Zitate trug er bei seinem Auftritt singend vor, die Zitate der Mutter sprach er in gebrochenem Deutsch.
Während das Publikum mit lang anhaltendem Applaus reagierte, zeigte sich die Jury gespalten. Wilke lobte einen "sehr klugen", "körperlichen" Text, der eine "Art Requiem der ungewöhnlichen Art" sei, immer mehr Räume öffne und schließlich auch unterschiedliche Stimmen hörbar mache, "damit sie nicht verloren gehen". Delius hob die Vielfältigkeit der Stimmen hervor und zeigte sich vom hier geschaffenen Mutterporträt beeindruckt. Sehr ergriffen zeigte sich Sanyal, die "wieder geweint" habe. Der Text mache das Ungesagte greifbar. Für Strässle hat der Text erst durch den Vortrag "unglaublich gewonnen", es handle sich um einen im besten Sinne "unförmigen, ungeglätteten und ungezähmten" Text.
Auch für Tingler handelte es sich um einen "Text zum Hören", das sei jedoch im Kontext des Bachmann-Preises nicht ausschlaggebend für die Beurteilung der literarischen Qualität, die er dem Text absprach, da ihn "gewisse Banalitäten" und ein Mangel an Gestaltung störten. Auch habe er einen zu deutlichen Bruch zwischen den beiden Teilen des Textes wahrgenommen. Diesen Bruch wiederum verteidigten Schwens-Harrant und Kastberger, der Piekar eingeladen hatte: "Ja, das ist ein Bruch, ein Durchbruch!"
Die aus London stammende Jacinta Nandi (Jahrgang 1980) sorgte vor ihrer Lesung für Schmunzeln, als sie darauf verwies, dass ihr ein ORF-Mitarbeiter einen Kübel hingestellt habe, da sie vor Aufregung Angst habe, kotzen zu müssen. Diese Befürchtung löste sich nicht ein und so las sie aus ihrem von Mithu Sanyal eingeladenen Text "Zeitmaschine" über eine junge Mutter, die sich vehement einredet, nicht in einer Gewaltbeziehung zu leben. Mara Delius freute sich über einen "sehr interessant variierten Text über den Topos der deutschen Mutter", hätte sich aber auf literarischer Ebene mehr Leben gewünscht.
Lob für die Dramaturgie und Dynamik des Textes und seine "echt wirkenden" Dialoge kam von Schwens-Harrant, Strässle gefiel der "sehr schwarze Humor, unter dem es eine eminente Katastrophe gibt". Gar als "politische Comedy" las Juryvorsitzende Wilke den Text, und auch Kastberger nannte den Text "fast kabaretthaft", er sei trotz der Thematik vergnüglich. Auch gefiel ihm der ethnologische Blick auf die Deutschen. "Ich habe noch nie einen Text gelesen, wo so ehrliche Aussagen über Mutterschaft getroffen werden", freute sich Sanyal, die den Text eingeladen hatte. Allein Tingler kritisierte "schlichte Passagen" und "das inkonsistente Reflexionsniveau" der handelnden Personen. Das letzte Wort des Vormittagsblocks hatte schließlich die Autorin: "Ich finde, es soll beim Bachmann-Preis eine Kinderbetreuung geben!"
Am Nachmittag folgte dann nur mehr eine Lesung und zwar jene der österreichischen Autorin Anna Felnhofer. Nach der Absage von Helena Adler und Robert Prosser treten heuer nur zwei österreichische Teilnehmer an, darunter die 1984 geborene Wiener Autorin und Psychologin, die mit ihrem 2021 im Luftschacht Verlag erschienenen Debütroman "Schnittbild" für den Debüt-Preis beim Österreichischen Buchpreis nominiert war. Sie beschloss den Tag mit ihrem Text "Fische fangen" über einen autistischen Buben und seine Gewalterfahrungen. Bereits der erste Satz hatte es in sich und wurde in weiterer Folge auch in der Jurydiskussion oft zitiert: "Man muss ihn, das weiß er, prügeln, muss ihn so weit in den Schmerz hineinprügeln, so fest auf ihn eindreschen, so lange alles Weiche, Warme aus ihm herausdreschen, bis man an das herankommt, was seine Mitte stellt", schreibt Felnhofer.
"Gewalt dient hier der Wahrheitsfindung. Das ist ein ungeheuerlicher Gedanke", so Kastberger in Hinblick auf diesen Auftakt, "mit dem man sofort drinnen ist und gar nicht mehr rauskann", so der Juror, der sich an einen Text Jean Amérys über die Folter erinnert fühlte. Auch Strässle lobte den "sehr komplexen Text, der von komplexen psychologischen Mechanismen" erzählt und bei dem die Suche nach Anerkennung am Ende über das Opfer-Sein funktioniere. Überhaupt zeigte sich die Jury in ihrem Lob selten einig: Tingler freute sich sichtlich über die "sehr hohe literarische Qualität, die auf verschiedenen Ebenen funktioniert" und Felnhofers "Vermögen, die Dinge in lakonischer Konzentration auszudrücken". Es sei die "nicht moralisierende Unaufdringlichkeit, die diesen Text zu einem großen Erlebnis macht", so Tingler.
Wilke zog eine Parallele zwischen dem "komplizierten Thema" und der "zunächst überfordernden Struktur des Textes", Sanyal fielen vor allem die Raummetaphern auf, "die ich noch nie in dieser Form gelesen habe". Ihr fehlte jedoch eine Person, von der Wärme komme "in dieser zu apokalyptischen Welt der Gewalt". Delius bedankte sich bei Schwens-Harrant für ihre "hochkomplexe Textauswahl", diese gab wiederum zu, "dass es selten vorkommt, dass man solche Texte vorliegen habe". Die Autorin verwende hier ihre Sprache, "um etwas sichtbar zu machen". In diesem Sinne ging der doch kontroverse Tag einhellig begeistert zu Ende. Am morgigen Samstag gehen noch Yevgeniy Breyger, der Niederösterreicher Mario Wurmitzer, Laura Leupi und Deniz Utlu ins Rennen.
S E R V I C E - https://bachmannpreis.orf.at/)
Zusammenfassung
- In diesem Sinne ging der doch kontroverse Tag einhellig begeistert zu Ende.