Wahnwitz und Zeichenkunst: Die Graphic Novel "F22.0"
Beide Künstler haben sich mit eigenen Graphic Novels in der heimischen Zeichner-Szene etabliert. Der 1969 geborene Leopold Maurer etwa mit "Miller & Pynchon" (2009) und "Der Sturm" (2016), die 1976 geborene Regina Hofer mit "Blad" (2018), in der sie ihre Ess-Brechsucht aufarbeitete und auf ihre Kindheit, die Probleme mit ihrem Körper und dem autoritären Vater zurückblickte. "F22.0" geht einen ähnlichen Weg, bezieht aber die engste Umgebung mit ein. Das Buch besteht auch grafisch aus zwei Ebenen: der reichhaltigen, ständig ins Surreale kippenden Innen- und Erinnerungswelt und der Wirklichkeit, in der Behauptung und Einordnung, Aktion und Reaktion in immer größerer Spannung stehen.
In der Psychiatrie bezeichnet der Code F22.0 eine anhaltende wahnhafte Störung. Die kann jedoch tausenderlei Gestalt annehmen. Im Falle der Geschichte, die Hofer und Maurer erzählen, wird das Gehirn der weiblichen Hauptfigur durch eine Radiosendung getriggert, in der sich eine Frau erst als Erwachsene an den frühen Missbrauch durch ihren Vater erinnert. "Vielleicht ist das bei mir auch so?", fragt die Hörerin ihren irritierten Mann. In Flashbacks entsteht eine eigene Missbrauchsgeschichte, in der auch die Mutter, ja das ganze Dorf involviert war. Durch immer abenteuerlichere Details kommen dem Partner allmählich erste Zweifel, sein Kontakt mit der Therapeutin seiner Frau bringt ihn immer wieder auf einen Punkt zurück: "Ich glaube ihr, dass sie das glaubt." Aber ist es auch wahr?
"F22.0" schildert das Entstehen eines ganzen Wahnsystems trotz fortlaufender Behandlung. Die dabei immer mächtiger werdenden Bilder sind fantasievoll, verlockend und erschreckend zugleich. Als Kontrast dazu wird die in bewussten groben Strichen festgehaltene Wirklichkeit des gemeinsamen Alltagslebens immer bedrückender und auswegloser. Die Augen der Personen werden immer größer, sie suchen Halt und finden keinen. Medikamente und Therapiestunden ändern nichts daran, dass es immer schlimmer wird. Als ihre Mutter behauptet, FBI-Agentin zu sein und als Geheimnisträgerin, die über die Entstehung des Coronavirus Bescheid weiß, kurz vor ihrem Transport nach Amerika zu stehen, wird auch den beiden Töchtern klar, wie es um ihre Mutter steht. Statt in den USA landet sie in der Psychiatrie.
"F22.0" ist Zeichenkunstwerk und Horrortrip in einem. Es verlangt einem alles ab, denn Regina Hofer und Leopold Maurer ersparen sich und den Leserinnen und Lesern nichts - weder das eigene Wegdriften aus der Wirklichkeit und die zunehmende gegenseitige Entfremdung, noch die Unsicherheit, dem Zustand des Partners nicht helfend begegnen zu können. Man steuert so richtig gebeutelt auf das Ende zu. Dieses ist glücklicherweise nicht ganz Schwarz, sondern ähnelt einem Schwarz-Weiß-Flimmern, einem Schwebezustand, der auf zwei Arten beendet werden kann. Abheben oder aufprallen? Es ist gut, dass das in Schwebe bleibt.
(S E R V I C E - Regina Hofer, Leopold Maurer: "F22.0", Luftschacht Verlag, Broschur, Graphic Novel, 304 Seiten, 28 Euro)
Zusammenfassung
- Beide Künstler haben sich mit eigenen Graphic Novels in der heimischen Zeichner-Szene etabliert.
- "F22.0" geht einen ähnlichen Weg, bezieht aber die engste Umgebung mit ein.
- "F22.0" schildert das Entstehen eines ganzen Wahnsystems trotz fortlaufender Behandlung.
- "F22.0" ist Zeichenkunstwerk und Horrortrip in einem.
- (S E R V I C E - Regina Hofer, Leopold Maurer: "F22.0", Luftschacht Verlag, Broschur, Graphic Novel, 304 Seiten, 28 Euro)