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Vladimir Vertlibs "Zebra im Krieg": Bürgerkrieg in Osteuropa

"Aus der Ferne sehen sie harmlos aus: Sterne, die um die Wette laufen, eine rasende Lichterkette, die das Firmament erhellt und die Welt zum Glitzern bringt." So beginnt der neue Roman von Vladimir Vertlib. Unweigerlich denkt man dabei an die Menschen in der Ukraine. Das Licht wird nämlich von Lärm begleitet, "ein Knurren und Heulen wie von aufgeschreckten Raubtieren". So klingt Krieg. "Zebra im Krieg" heißt das Buch, und nicht nur das Zebra weiß nicht, wie ihm geschieht.

Das Buch spielt in einer namenlosen osteuropäischen Hafenstadt in der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre. "Vor den Kämpfen, bevor die Kontrahenten ihre Transparente, Fahnen und Megafone gegen automatische Waffen und Granatwerfer tauschten, hätte sie eine Perle des Tourismus werden können." Doch nun, nach Coronakrise und "erweiterter Polizeiaktion", die nichts anderes ist als ein Bürgerkrieg zwischen Machthabern und Rebellen, ist die Stadt "verschissen und runtergespült", wie die Bevölkerung konstatiert. Die Versorgungslage ist kritisch, die militärische Situation unübersichtlich. Nach Zerstörung des Zoos sind die Krokodile los, und das Zebra irrt durch die Straßen. Auch vor streunenden, bissigen Vierbeinern muss man sich in Acht nehmen. Die Stadt geht ganz buchstäblich vor die Hunde. Wie soll man da mit seiner Familie einen ruhigen Schlaf finden?

Paul Sarianidis, aufgrund der schweren Zerstörungen am Flughafen derzeit arbeitsloser Flugzeugingenieur, lebt zusammen mit seiner Mutter, seiner Frau, der im Krankenhaus Dauerschichten schiebenden Ärztin Flora, und der halbwüchsigen Tochter Lena in einer schönen Wohnung. Doch kaum hat die Rebellenarmee diesen Teil der Stadt erobert, läutet es an der Türe. Ein Kommando mehr nach Banditen als nach Soldaten aussehender Schwerbewaffneter holt Paul ab. Ein Albtraum beginnt. Binnen Kurzem sieht er sich in einem Verhörraum jenem Rebellenführer gegenüber, den er kürzlich im Internet wüst beschimpft und bedroht hatte. Paul winselt um sein Leben, malt sich die kommenden Prügel aus - und pinkelt sich an. Videokameras dokumentieren diese demütigenden Minuten in Großaufnahme. Wenige Stunden und viele hunderttausend Internetklicks später ist er als "der Pisser" weltweit bekannt. Die "wahre Begebenheit", auf die sich der Roman gemäß seines Untertitels bezieht, spielte sich laut Vertlib in den Separatistengebieten des Donbass genauso ab.

Der Autor verbindet in seinem Roman zwei Dinge, die nur auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben: die immer wiederkehrenden Muster eskalierender Auseinandersetzungen, bei denen Gewalt und Hass, Lüge und Korruption ebenso Konstanten bleiben wie das Leid der Zivilbevölkerung, sowie die Sozialen Medien als Ort der Verfolgung und Erniedrigung. Der an sich friedliebende, unpolitische Paul erlebt mit Schrecken, wie es sich anfühlen kann, wenn sich digitale Hassbotschaften analog materialisieren. Und wie übel einem mitgespielt werden kann, wenn man nicht nur für seine Netzaktivitäten zur Verantwortung gezogen, sondern gleich auch zum Objekt digitaler Kriegsführung gemacht wird. Paul wird - gemeinsam mit einer kämpferischen Theaterintendantin - vom Mob in einen stinkenden Biomüllcontainer gesteckt und von den neuen Machthabern bald wieder vor ihre Kameras gebeten, nun als Beispiel eines Geläuterten und glühenden Anhängers des neuen Regimes. Doch das Blatt wendet sich, und die Rebellen werden vertrieben...

Während die Zweit-Existenz des friedlichen Familienvaters als bösartiger Internet-Hassposter nicht ganz glaubwürdig wird, gelingen Vertlib beklemmende, atmosphärische Bilder einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Angst und Leid des Kriegs werden in den unterschiedlichsten Familienkonstellationen Pauls mit seiner Frau, seiner Mutter und seiner Tochter beklemmend und nachvollziehbar dargestellt. Hauptleidtragende sind immer die Zivilsten, denen es bald an allem mangelt: Trinkwasser, Strom, Nahrung, Sicherheit und Selbstwertgefühl. Nur eine Gruppe ahnt, dass es für sie noch schlimmer kommen wird. Die alten jüdischen Nachbarn von Pauls Familie wissen genau, was sie erwartet. Denn das war noch in jedem Krieg so.

(S E R V I C E - Vladimir Vertlib: "Zebra im Krieg", Residenz Verlag, 288 Seiten, 24 Euro, Buchpräsentation am 10. März im Literaturhaus Salzburg, weitere Lesungen am 30. März im Literaturhaus Graz, am 7. April in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Wien)

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  • "Aus der Ferne sehen sie harmlos aus: Sterne, die um die Wette laufen, eine rasende Lichterkette, die das Firmament erhellt und die Welt zum Glitzern bringt."