"Tumulus": Spirituelle Grenzüberwindung bei den Festwochen
Sind es singende Tänzerinnen und Tänzer oder tanzende Sängerinnen und Sänger, mit denen die beiden Franzosen in dieser Koproduktion mit u.a. dem Brüsseler Kunstenfestivaldesarts hier angetreten sind? In den 75 dichten Minuten der diesjährigen Eröffnungsproduktion treten sie den Beweis an: Sie sind beides, ohne eine Disziplin zu vernachlässigen. Die Musik gesellt sich gleichberechtigt als 14. Körper hinzu und reicht von Josquin Desprez' kanonischer Psalm-Motette "Qui habitat" aus der Frührenaissance bis hin zu Claude Vivier und seiner 1971 komponierten, bisher selten aufgeführten "Musik für das Ende".
Der Tod ist es auch, der physisch im Zentrum steht: Das titelgebende Hügelgrab ("tumulus") dominiert die Bühne von Mathieu Lorry Dupuy und wartet darauf, von der trauernden Gemeinde in Besitz genommen zu werden. Dies geschieht schleichend, schreitend und schließlich hüpfend, springend und rutschend. Während die versammelte Truppe anfangs zu Jean Richaforts "Graduale" aus dem "Requiem" noch ehrfürchtig singend um das Grab herum schleicht, wird dieses mit jedem der fünf Stücke ein wenig mehr erkundet: Aus der anfänglichen Ehrfurcht vor dem Tod wird so bis zum Schlusspunkt mit William Byrds "Lullaby my sweet little baby" ein aktives Arrangement mit dem Tod, der angesichts der Eroberung des Hügelgrabes wie ein guter Freund erscheint, den es ins Leben zu integrieren gilt.
Bemerkenswert ist dabei, wie mühelos die Qualität der polyphonen Chorstücke aufrecht erhalten wird, während sich die körperlichen Verrenkungen in ihrer Intensität stetig steigern. Hier hat das Duo Chaignaud und Jourdain ganze Arbeit geleistet, die angestrebte Gleichwertigkeit der beiden Disziplinen einzulösen. Ein ganz eigener Akteur sind in diesem Gesamtkunstwerk die Kostüme von Romain Brau, die zunächst mit zweckentfremdeten Schlafsäcken überraschen und sich im Laufe des Abends mit immer weniger Stoff begnügen, bis die 13 Akteurinnen und Akteure nur mehr in leichten, hautfarbenen Korsagen und auffälligen Legwarmers über den Hügel sausen.
Und so holen Chaignaud und Jourdain die choralen Klänge aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert auf beeindruckende Weise in eine Gegenwart, in der der Tod allzu oft in Krankenhäuser und Pflegeheime verbannt wird. Der Höhepunkt des Abends ist erreicht, wenn er in unserer Mitte angekommen ist. Lang anhaltender Applaus für eine Produktion, die beweist, dass es den Wiener Festwochen immer noch gelingen kann, atemberaubende Arbeiten in die Stadt zu bringen, die dem Publikum sonst entgangen wären.
(S E R V I C E - Wiener Festwochen: "Tumulus" von François Chaignaud und Geoffroy Jourdain , Halle E im Museumsquartier. Weitere Termine: 15. und 16. Mai, 20 Uhr. Infos und Tickets unter www.festwochen.at)
Zusammenfassung
- Beklemmend und erhebend, körperlich und vergeistigt, neckisch und ernsthaft: Mit "Tumulus" treten der Choreograf François Chaignaud und der Chorleiter Geoffroy Jourdain bei den Wiener Festwochen an, um die menschliche Verletzlichkeit als Voraussetzung für Spiritualität zu ergründen und tradierte Grenzen zwischen den Disziplinen Tanz und Gesang aufzuheben. Das Ergebnis war am Samstagabend in der Halle E im Museumsquartier zu erleben - und überzeugte auf ganzer Linie.