Tosender Beifall für Schläpfers letzten Seufzer "Pathétique"
Der fantasievolle, eigenwillige Schläpfer und das eher klassische, konservative Ballettpublikum der Staatsoper verband immer eine gewisse Hassliebe. Für zu modern befand ihn die Kritik. Zu viele abstrakte Eigenkreationen. Mehr Handlungsballette wollte man sehen. Trotzdem soll das Haus am Ring gut gebucht gewesen sein. Zum Abschied stellte der Schweizer Choreograf, der diesen Sommer Wien verlässt, seiner eigenen Uraufführung zwei Ikonen der New Yorker Fünfzigerjahre voran.
Noch bevor der Vorhang aufgeht, kann man die geschmeidigen Klänge von Mozart unter der musikalischen Leitung von Christoph Altstaedt vernehmen. Der Abend beginnt neoklassisch mit einem fröhlichen Ballett des Tanzrevoluzzers George Balanchine: "Divertimento Nr. 15" aus dem Jahr 1956. Mit Revoluzzertum hat das heute nicht mehr viel zu tun. Das Tutu-Ballett in bezaubernden, mit blauen Kristallen besetzten Kostümen der Designerin Karinska hat einen Hauch von Aristokratie auf einer leeren Bühne vor nachtblauem Hintergrund. Die Männer (sticht hervor: Davide Dato) drehen Pirouetten und springen mit kleinen Sprüngen durch ihre Soli.
Die Frauen, mitunter die wunderbare Hyo-Jung Kang, glänzen in Arabesques, schweben anmutig auf Spitze, und verzieren ihre Hebungen mit ausladenden Armen. Die Ballerinen sehen aus wie fleischgewordene Seidenkracher Bonbons. Die Männer werfen sich in pastellblauen Fracks vor ihre Füße. Balanchine hielt Mozarts "Divertimento Nr. 15", auch bekannt als "Lodronische Nachtmusik Nr. 2", für das beste aller Zeiten. Dem mag so sein, aber es ist auch eine Musik, die einen beim Betrachten in einen traumähnlichen Zustand der Monotonie versetzen kann.
Kreatürliches Naturschauspiel
Dann, am "Morgen" nach der ersten Pause, das Kontrastprogramm: Morton Feldmans Klavierklänge singen und zwitschern wie Vögel. "This is not Mozart", bemerkt ein Gast enttäuscht, aber ganz im Gegenteil, es ist ein fantastischer Wechsel. Eingehüllt in den feuchten Dunst des Sommers vor Robert Rauschenbergs wunderschöner, pointillistischer Kulisse, betreten drei Ballerinen die Bühne in weiten Bögen, wie flatternde Vögel, jede in einem anderen Takt. Das 1958 uraufgeführte "Summerspace" ist eines jener Stücke des großen Tanzavantgardisten Merce Cunninghams, deren kreatürliches Geschehen so fesselnd in seiner Andersartigkeit ist, dass es alles andere an diesem Abend fast in den Schatten stellt.
Auf kreisförmigen oder geraden Wegen, in Soli allein auf der weiten Bühne oder über sie verstreut, huschen die grazile Rebecca Horner und Co wie Tiere über die Bühne. Sie flattern mit den Fingern. Die Arme sind angewinkelt wie im Flug. Mitten im Sprung schnippt François-Eloi Lavignac (fantastisch) wie ein Hirsch mit einem Bein in die Leiste. Die bunten Ganzanzüge der sechs Tänzer und Tänzerinnen verschmelzen beinahe mit dem Hintergrund.
Schläpfer geht mit einem lauten Seufzer
Nach der Pause dann das große Schläpfer'sche Finale: klagend-traurige Posaunen und. Die Orchestermusik schwillt an mit der Tragik von Tschaikowskis "Symphonie Nr. 6.", die den Schweizer zu seinem Ballett "Pathétique" inspiriert hat. Weil es Tschaikowskis letzte Sinfonie war, soll es Theorien zufolge ein selbst verfasstes Requiem sein. Dass die Sinfonie in der finsteren Tonart h-Moll unter anderem das Sterben zum Thema hat, lässt sich kaum leugnen.
Und ja, sie ist pathetisch. Die Sechste ist melodramatisch, packend, unheilvoll und so ist auch die leidenschaftliche Inszenierung von Schläpfer, die an diesem Abend vermutlich alle Erwartungen sprengt. Was für ein wunderbares Hin und Her bietet sich einem hier zwischen abwechselnd weichen und harten Körpern vor einem blaugrauen Hintergrund mit langen Schatten. Die Körper fallen und schweben, sie klammern sich aneinander fest, dann trennen sie sich wieder und beugen sich wie Seufzer nach vorne. Die Ballerinen tragen nur einen Hauch von Seide, die halbstarken Männer tanzen in Leder und Disco-Tops. Ein Solist stirbt einen tragischen Tod. Das hat etwas von der feurigen Dynamik und dem kriegerischen Staccato von "West Side Story" und auch die Musik hat eine starke Hollywoodfilmqualität.
Wenn die letzten Töne Tschaikowskis verklungen sind, ist das Ballett noch nicht zu Ende. Ein Tänzer streckt dem Totgeglaubten die Hand entgegen. Der erwacht wieder zum Leben! Zu der Arie für Sopran, Violine und Cembalo "Süße Stille" von Georg Friedrich Händel versammelt sich nach und nach das gesamte Ensemble. Dass sich Martin Schläpfer ausgerechnet Tschaikowskis Schwanengesang als Inspiration für seine letzte Uraufführung für das Wiener Staatsballett ausgewählt hat, könnte man auch bedeutungsschwanger interpretieren, doch der Künstler hat das im Vorfeld immer wieder verneint. Er selbst hat es als ein "Kommen und Gehen" bezeichnet, und als solches entfaltet es sich auch vor den Augen der Zuseher. Schließlich liegt in jedem Abschied auch ein neuer Anfang.
(Von Marietta Steinhart/APA)
(S E R V I C E - Premiere von "Pathétique" in der Wiener Staatsoper. "Divertimento Nr. 15" von George Balanchine und Wolfgang Amadeus Mozart. Musikalische Leitung: Christoph Altstaedt, Kostüme: Karinska. "Summerspace" von Merce Cunningham und Morton Feldman. Bühne/Kostüme/Licht: Robert Rauschenberg. "Pathétique" von Martin Schläpfer, Piotr I. Tschaikowski, und Georg Friedrich Händel. Musikalische Leitung: Christoph Altstaedt, Bühne: Thomas Mika, Kostüme: Catherine Voeffray, Licht: Robert Eisenstein. Weitere Aufführungen am 8., 9., 11., 14., 21., 26. April, 3., 7., 11. Mai, und am 5., 7., und 10. Juni. www.wiener-staatsoper.at)
Zusammenfassung
- Martin Schläpfer erhielt bei seiner letzten Uraufführung 'Pathétique' in der Wiener Staatsoper stürmische Standing Ovations.
- Schläpfer, der diesen Sommer Wien verlässt, hat das Ballett 'Pathétique' inspiriert von Tschaikowskis 'Symphonie Nr. 6' inszeniert.
- Der Abend begann mit George Balanchines 'Divertimento Nr. 15', gefolgt von Merce Cunninghams 'Summerspace'.
- Schläpfers Inszenierung endet mit einem symbolischen Neuanfang zu Händels Musik.
- Die musikalische Leitung übernahm Christoph Altstaedt, und weitere Aufführungen sind im April, Mai und Juni geplant.