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Ronya Othmanns Roman "Vierundsiebzig" mit Buchpreis-Chancen

Die Medien lenkten kürzlich den Blick wieder auf die Massaker, die sich vor zehn Jahren im Nordirak ereigneten. Sie berichteten über eine Frau, die nach israelischen Angaben als Elfjährige vom IS im Irak verschleppt worden war und im Gazastreifen nun gerettet wurde. Die Frau gehört zur religiösen Gruppe der Jesiden. Das Schicksal könnte im neuen, für den Deutschen Buchpreis nominierten Buch von Ronya Othmann stehen. Die Autorin dokumentiert den Völkermord an den Jesiden.

Man wünscht sich, dass das, was in Othmanns Roman "Vierundsiebzig" steht, Fiktion ist. Doch wenn man beim Lesen Namen, Geschehnisse, Orte oder Videos, die die Schriftstellerin und Journalistin im Roman erwähnt, googelt, bekommt man einen Schreck - es ist real. Das Buch ist Augenzeugenbericht, Dokumentation, Tagebuch, Transkription von Interviews, Reisebericht und Roman in einem. Othmann will das, was am 3. August 2014 begann, für die Nachwelt sichtbar machen: Ermordung, Verschleppung und Vertreibung vieler Tausender Jesiden durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Orte, die quasi verschwunden sind.

Es ist klug, dass Othmann dafür das Genre Roman nutzt. Denn sie zieht weitere Ebenen in ihr Werk ein. Sie macht sich als Jesidin in Deutschland immer wieder Gedanken darüber, wie man das Geschehene erinnern kann. Wie man das alles verarbeitet. Und sie überlegt, was Sprache, Text, Video und Audio leisten kann. Im Buch heißt es an einer Stelle: "Aber wie erzählt man von den Toten und wie von den Verschwundenen, die in diesem Niemandsland, dieser Schwebe zwischen Leben und Tod festhängen? Jeder Text, den ich schreibe, kann nur unvollständig sein, wenn nicht gar völlig irreführend." Die Erzählerin im Roman ist die Autorin selbst. "Ich will mich aus dem Text streichen. Nur noch Auge und Ohr sein. Ein Tonband, ein Filmband. Ein Tonband, das nicht kaputtgeht von dem, was es hört."

Als Journalistin und Schriftstellerin, die 1993 in München geboren wurde und in Leipzig lebt, führte sie Gespräche mit Jesiden, die bis heute in Flüchtlingscamps leben müssen. Othmann besuchte Gerichtsprozesse gegen IS-Anhänger, hörte Opfern zu. Sie ging in Bibliotheken und las über die Geschichte der Jesiden. Sie reiste mehrmals in die Region, auch ihr Vater war dabei. Sie macht sich aber auch Gedanken um ihre eigene Rolle. Im Buch heißt es: "Als ich das Foto später einem Freund schicke, schreibt er: Wo ist deine journalistische Distanz? Er schreibt: Du posierst, als wärst du eine von ihnen."

Das Buch lässt sich nicht leicht lesen, der Inhalt wiegt zu schwer. Beim Lesen muss man es zwischendurch immer wieder weglegen, um die vielen schlimmen Schicksale überhaupt zu begreifen.

Es ist Othmanns zweiter Roman. In ihrem Debüt "Die Sommer" ging es auch um das Leben in der Region. Aber das erste Buch hatte viel stärker einen erzählenden und weniger dokumentarischen Charakter. In dem Roman ging es um die junge Leyla, die aus Deutschland in den Sommerferien zu ihrer Verwandtschaft in das Dorf ihrer Großeltern verbringt.

(Von Anna Ringle/dpa)

(S E R V I C E - Ronya Othmann: "Vierundsiebzig", Rowohlt, 508 Seiten, 26,70 Euro)

ribbon Zusammenfassung
  • Ronya Othmanns Roman 'Vierundsiebzig', nominiert für den Deutschen Buchpreis, dokumentiert den Völkermord an den Jesiden im Nordirak durch den IS, der am 3. August 2014 begann.
  • Das Buch kombiniert Augenzeugenberichte, Tagebucheinträge und Interviews, um die Grausamkeiten und das Verschwinden ganzer Orte zu thematisieren.
  • Othmann reflektiert über ihre Rolle als Journalistin und Jesidin und die Herausforderungen, über die Toten und Verschwundenen zu berichten.