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Radikal entmystifizierter "Jedermann" in Salzburg

Der Tod als fanatischer Geistlicher, der Glaube als Putzfrau und ein Jedermann, der seine Ankunft live im Internet streamt: Mit seiner Neuinszenierung des "Jedermann" hat der kanadische Regisseur Robert Carsen Hugo von Hofmannsthals "Spiel vom Sterben des reichen Mannes" radikal entmystifiziert und mit viel Party-Personal opulent in Szene gesetzt. In der bejubelten Premiere am Domplatz zeichnete Philipp Hochmair seinen Jedermann am Samstagabend als gedankenlosen Neureichen.

Der Wettergott meinte es gut mit den Salzburger Festspielen, und so konnte die "Jedermann"-Premiere heuer wieder unter freiem Himmel stattfinden. Gott selbst hat in diesem "Jedermann" allerdings wenig zu melden: Carsen hat seine Rolle einfach gestrichen, stattdessen fasst Dominik Dos-Reis als quirliger, mit starker Präsenz ausgestatteter Tod im weißen Outfit eines Geistlichen dessen Part einfach in der dritten Person zusammen, nachdem allerlei Kirchenvolk, das zuvor aus dem Dom auf den Vorplatz geschlendert war, den Part des Spielansagers übernommen hat - und dann exakt choreografiert sterbend zu Boden fällt. Eine Szene, die sich auch im Schlussbild wiederholen wird.

Alles anders also in diesem Jahr: Hatte Michael Sturminger im Vorjahr in seiner nach nur einer Saison abgesetzten Neuinszenierung mit Michael Maertens noch auf dystopisches Klimakrisenspiel gesetzt, steht diesmal eine Gesellschaft im Fokus, die nach wie vor feiert, als gäbe es kein Morgen. Gemeinsam mit Co-Bühnenbildner Luis F. Carvalho setzt Carsen auf reduzierte Bühnenelemente wie einen riesigen Rollrasen, Traverse mit Discokugeln oder eine Gartenbank samt Sonnenschirm, unter dem Jedermanns Mutter (liebevoll-streng: Andrea Jonasson) ihrem Sohn folgenlos ins Gewissen redet. All das geschieht vor der beeindruckenden Kulisse des Doms, den Hochmair sein Haus nennt und aus dem allerlei in Tracht, Gastro-Bekleidung oder Gärtner-Outfit gewandetes Hauspersonal auftritt.

Deleila Piasko gibt ihre Buhlschaft als selbstbewusstes It-Girl, das ihrem Jedermann zu Beginn in kurzem Bademantel und Handtuch-Turban um den Hals fällt und ihren Geliebten mit nobler Laszivität umgarnt, aber stets durchblicken lässt, auch ohne ihn auf beiden Beinen stehen zu können. Dabei verkörpert sie ein Frauenbild, das in Zeiten von selfmade Milliardärinnen wie Taylor Swift oder Kylie Jenner glaubwürdiger wirkt als so manch Darstellung ihrer Vorgängerinnen. Wer sich weiter in das Frauenbild im "Jedermann" vertiefen will, hat dazu übrigens im von Pia Janke herausgegebenen neuen Buch "JederMann - KeineFrau?" Gelegenheit, das am 29. August in Schloss Leopoldskron präsentiert wird.

Für Jedermann setzt Carsen auf Protz hoch drei: Hochmair wird in einem goldenen Elektro-Cabrio auf die Bühne chauffiert (was bei der Premiere für Szenenapplaus sorgte), die rund 90 Partygäste setzen auf Breakdance, Koks und Karaoke. Dass sich hier die Reichsten der Reichen in einem heutigen Paralleluniversum begegnen, wird besonders deutlich, wenn Arthur Klemt als von Polizisten eskortierter und von Journalisten umringter Pleitegeier in Anzug und Sonnenbrille vor Jedermann tritt, dem er bis vor kurzem in einer Welt der spekulierenden Immobilien-Haie wohl noch ebenbürtig gewesen war. Aktuelle Bezüge zu einer berühmten Mega-Pleite lassen grüßen. Als seine immer noch am vergangenen Reichtum festhaltende und den tiefen Fall noch nicht ganz realisierende Ehefrau steht Nicole Beutler auf der Bühne.

Hochmair - vor der Tischgesellschaft in floralem Gold-Anzug im Partnerlook mit Piasko - unterhält die Meute auf seiner exklusiven Gartenparty via Mikrofon und tanzt mit seiner Geliebten Tango auf dem Tisch. Mehr gedankenverlorene Ausgelassenheit geht da schon fast nicht mehr, etwa wenn Lukas Vogelsang als sichtlich schmarotzender Dicker Vetter Clay Walkers Country-Song "Live until I die" inbrünstig zum Besten gibt. Umso radikaler ist der Bruch, sobald Jedermann vom Tod (diesmal als Kellner verkleidet) heimgesucht wird. Im zweiten Teil des Abends kann Hochmair jenen Wahnsinn ausspielen, der ihm am besten liegt. Dass er den Jedermann dank seines gefeierten "Jedermann reloaded"-Programms und einem Kurzeinsatz als Ersatz von Tobias Moretti im Jahr 2018 im kleinen Finger hat, merkt man in jeder Sekunde. Dennoch ist auch er nicht davor gefeit, Hofmannsthals Knittelverse bisweilen etwas hölzern zu deklamieren.

Carsen setzt in seiner Deutung sichtlich auf Personen statt Personifikationen: So braucht sich Dörte Lyssewski, die zu Beginn in Bettler-Outfit und zerzausten Haaren als der arme Nachbar auftritt, für ihre Rolle der Werke gar nicht umzuziehen. Vielmehr zelebriert Carsen auch hier Vervielfachung und holt die rund 90 Statisten umfassende Party-Meute als Bettler/Werke-Volk direkt aus den Zuschauerrängen auf die Bühne. Dabei kommt es auch zu einer der überzogensten Szenen des Abends: Nachdem Regine Zimmermann als Glaube ihren Auftritt als Putzfrau hatte, drückt sie Jedermann ihren nassen Putzlappen kurzerhand in die Hand, worauf dieser den versammelten Werken die Füße wäscht. Jesus lässt grüßen.

Dass der Teufel in jedem von uns steckt, macht Christoph Luser in seiner starken Performance deutlich, in der er sich vom Guten Gesell in einen beim Gehen Funken sprühenden Mephisto verwandelt und dafür nicht nur rot leuchtende Kontaktlinsen verpasst bekommt, sondern sich auch den roten Slimfit-Anzug des Gesellen vom (gestählten) Leib reißen darf. In Erinnerung bleiben wird auch Kristof Van Bovens Auftritt als Mammon, der als modetechnischer Klon Jedermanns aus dem Kofferraum des goldenen Cabrios springt und nicht nur mit Jedermanns Geldkoffern, sondern auch mit dessen absurd teurer Kunstsammlung - von der "Goldenen Adele" über "Salvator mundi" bis zu Munchs "Schrei" - das Weite sucht.

Am Ende des fast zweistündigen Abends, an dem das 90-köpfige Ensemble weiß gewandet gemeinsam mit Jedermann - der nicht ganz überzeugend geläutert in ein sich auf dem Dom-Vorplatz auftuendes Grab hinabsteigt - stirbt, brauchte das Publikum ein wenig Zeit, doch der anfangs freundliche Applaus verwandelte sich in Standing Ovations, als Hochmair mit seinem Gefolge an die Rampe trat. An diesen neuen "Jedermann" wird man sich noch gewöhnen müssen. Bleibt zu hoffen, dass ihm nicht das kurzlebige Schicksal der - ebenfalls mutigen - Vorjahresproduktion blüht.

Die erste reguläre Schauspielpremiere nach der Eröffnung findet dann am kommenden Samstag statt, wenn der Schweizer Thom Luz im Landestheater seine Deutung von Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit" auf die Bühne bringt. Der "Jedermann" steht bereits am morgigen Montag wieder auf dem Programm und ist bis zum 28. August noch 13 Mal zu sehen.

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - "Jedermann" von Hugo von Hofmannsthal, Regie: Robert Carsen, Bühne: Robert Carsen, Luis F. Carvalho, Kostüme: Luis F. Carvalho, Musik: Ensemble 013. Mit u.a. Philipp Hochmair als Jedermann, Deleila Piasko als Buhlschaft, Dominik Dos-Reis als Tod, Andrea Jonasson als Jedermanns Mutter, Christoph Luser als Jedermanns guter Gesell / Teufel, Dörte Lyssewski als Armer Nachbar / Werke, Arthur Klemt als Schuldknecht, Nicole Beutler als Des Schuldknechts Weib, Lukas Vogelsang als Dicker Vetter, Daniel Lommatzsch als Dünner Vetter, Kristof Van Boven als Mammon und Regine Zimmermann als Glaube. Salzburger Festspiele. Am Domplatz bzw. bei Schlechtwetter im Großen Festspielhaus. Vorstellungen bis 28. August. Karten: 0662/8045-500. www.salzburgerfestspiele.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Robert Carsen inszeniert den 'Jedermann' radikal neu und entmystifiziert, wobei Philipp Hochmair den gedankenlosen Neureichen spielt.
  • Die Rolle Gottes wurde gestrichen und durch den Tod in Form eines Geistlichen ersetzt, dargestellt von Dominik Dos-Reis.
  • Die Inszenierung fokussiert auf eine feiernde Gesellschaft ohne Morgen und verwendet reduzierte Bühnenelemente wie einen riesigen Rollrasen und Discokugeln.
  • Deleila Piasko gibt die Buhlschaft als selbstbewusstes It-Girl, das ihren Jedermann mit nobler Laszivität umgarnt.
  • Die Inszenierung endet mit Standing Ovations, und es sind noch 13 weitere Vorstellungen bis zum 28. August geplant.