Jean Ziegler - "Kein Kompromiss mit Massenmörder Putin"
APA: Ein Attribut, das man Ihnen immer zudenkt und das Sie ja auch zweifelsohne erfüllen, ist jenes des Globalisierungskritikers. Wenn Sie sich heute umsehen: Lieferketten brechen zusammen, eine Pandemie hat gezeigt, dass wir vieles nicht selbst produzieren können und plötzlich von Gütern abgeschnitten sind, der Krieg in der Ukraine hat extreme Auswirkungen auf die Nahrungsmittel- und Energieversorgung der restlichen Welt: Sehen Sie sich tragisch bestätigt?
Jean Ziegler: Ganz sicher. Aber es wäre arrogant zu sagen: "Sehen Sie, ich habe recht". Die Situation ist fürchterlich, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, mehr als 874 Millionen Menschen sind permanent schwerstens unterernährt. Von allen Menschen, die in einem Jahr auf der Welt sterben, sind 14 Prozent Hungertote. Das Massaker des Hungers fordert täglich Zehntausende Menschenleben. Das ist der absolute Skandal unserer Zeit. Der Hunger ist menschengemacht und könnte mit einigen Strukturreformen von Menschen aus der Welt geschafft werden. Alles, was es braucht, ist der Aufstand des Gewissen. Der World Food Report sagt, dass die Weltlandwirtschaft so wie sie heute ist, problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, wenn die Verteilung gerecht ist. Das ist fast das Doppelte der derzeitigen Weltbevölkerung. Schlussfolgerung: Es gibt also keine Fatalität mehr. Ein Kind das heute am Hunger stirbt, wird ermordet.
APA: Wen würden Sie am ehesten in die Pflicht nehmen, das zu ändern?
Jean Ziegler: Das Problem ist: Es gibt ein Menschenrecht auf Nahrung, aber tatsächlich regelt der Markt den Zugang und nicht das Recht. Wer Geld hat, der isst und lebt, wer kein Geld hat, leidet Hunger und stirbt. Die Weltordnung wird beherrscht von den Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Die Agrarmärkte der Welt werden von 200 Konzernen beherrscht. Sie sind mächtiger als alle Staaten der Welt und entschwinden jeder Kontrolle, sie haben eine einzige Strategie und das ist die Profitmaximierung. Und diese Konzernmacht muss man brechen, jetzt, wir, Sie und ich. Wenn jemand sagt, "Ich kann ja nichts tun", dann ist das falsch. In der Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Österreich ist eine kreative, unerhört lebendige Demokratie, wahrscheinlich die lebendigste unseres Kontinents. Die Verfassung gibt uns alle Waffen in die Hand, um die Politik unserer Regierung radikal zu ändern und alle Ursachen des Hungers aus der Welt zu schaffen.
APA: Wie?
Jean Ziegler: In den ärmsten Ländern ist die Agrarproduktion sehr niedrig. Sie haben erdrückende Auslandsschulden, die Investitionen in Dünger, in Markterschließung, Bewässerung etc. verunmöglichen. Wir können von unseren Finanzministern verlangen, dass sie beim Weltwährungsfonds die Totalentschuldung dieser Länder durchsetzen. Eine andere Ursache des Hungers ist die Börsenspekulation: Dort werden 75 Prozent der Grundnahrungsmittel gehandelt wie alle anderen Waren auch. Die Großbanken machen riesige Spekulationsgewinne damit. Und wenn die Weltmarktpreise dann steigen, können etwa die Mütter in den Favelas von Sao Paulo noch weniger Essen kaufen und noch mehr Kinder sterben. Aber wir können vom Nationalrat verlangen, das Börsengesetz sofort zu ändern und die Spekulation mit Grundnahrungsmitteln zu verbieten. Und wir können auch durchsetzen, dass die EU die afrikanischen Agrarmärkte nicht mit billigen, hoch subventionierten Lebensmitteln überschwemmt und zerstört. Millionen Menschen wären so vom Hungertod befreit.
APA: Beim Thema Landwirtschaft wird in unseren Breiten der Anspruch immer wichtiger, dass es nachhaltig, bio und frei von Gentechnik ist. Ist das angesichts der Welthungerlage nur ein Erste-Welt-Problem?
Jean Ziegler: Das ist ein Sekundärproblem. Ich bin gegen die Gentechnik, weil die Gesundheitsfolgen noch nicht absehbar sind. Das Argument, Gentechnik stütze die Produktion und helfe gegen den Hunger, genügt nicht, um die Gefahr kollektiver Gesundheitsschäden zu entkräften.
APA: Durch den Krieg in der Ukraine droht eine noch größere Hungersnot.
Jean Ziegler: Ganz sicher ist, dass Putin ein Massenmörder ist, und der Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, einen der größten Getreideexporteure, bedeutet fürchterliche Hungersnöte in der Dritten Welt. Das muss vom Welternährungsprogramm (WFP) kompensiert werden. Das WFP hat im Vorjahr 91 Millionen Menschen vor dem Hungertod gerettet. Jetzt müssen hunderte von Millionen mehr Menschen gerettet werden. Wir, die öffentliche Meinung in den demokratischen Ländern, müssen kämpfen, damit unsere Regierungen ganz massiv ihre Beiträge aufstocken. Die letzte Geberkonferenz war im März. Die UNO hat eine Aufstockung auf 22 Mrd Dollar verlangt, erhalten hat sie vier Milliarden.
APA: Sind die Sanktionen gegen Putins Russland aus Ihrer Sicht richtig?
Jean Ziegler: Meiner Ansicht nach muss man alles tun, um diesen Massenmörder zu stoppen. Er hat ja schon in Tschetschenien gewütet, wo er die Hälfte der Bevölkerung umgebracht hat, jetzt wütet er in der Ukraine. Sanktionen sind eine der Waffen, die nötig sind, um ihn zu stoppen. Es gibt keinen Kompromiss mit einem Massenmörder.
APA: In der Pandemie ist es zu einer gewissen Spaltung der Gesellschaft gekommen, die sich jetzt am Thema Ukrainekrieg fortsetzt. Wie kann man diesen Graben wieder zuschütten?
Jean Ziegler: Indem man die Verschwörungstheorien der Coronaskeptiker bekämpft. Die Impfung muss obligatorisch werden, damit die Pandemie besiegt werden kann. Und alle diese Verschwörungstheorien und auch die Putin-Entschuldigungen sind zu bekämpfen, als Wahnvorstellungen, als gesellschaftlich zerstörerische Vorstellungen. In Demokratien ist das möglich. Voltaire hat gesagt, die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnutzt, wenn man es nicht benutzt. Es gibt keine Entschuldigung für die Lethargie, für die stille Akzeptanz der kannibalischen Weltordnung. Ich will nicht in einer Welt leben, die vor Reichtum überquillt und wo dennoch alle fünf Sekunden ein Kind verhungert.
ZUR PERSON: Jean Ziegler (88), geboren in Thun (Schweiz), gilt als einer der international bekanntesten Kapitalismus- und Globalisierungskritiker. Er lehrte Soziologie an der Universität Genf und an der Sorbonne in Paris. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und gehörte der UN-Task Force für humanitäre Hilfe im Irak an. Von 2009 bis 2019 war er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates, den er heute noch berät.
(Das Gespräch führte Verena Leiss/APA)
Zusammenfassung
- Mit der APA sprach er über das "Massaker des Hungers", das durch einen "Aufstand des Gewissens" beendet werden müsse.