Früh radikal, spät entdeckt: Renate Bertlmann im Belvedere21
Die Schau "Fragile Obsessionen", die ab Freitag zu sehen ist, zeigt mehr als 200 Zeichnungen, Fotos, Installationen und Skulpturen oder Dokumente von Performances - knapp die Hälfte davon wird überhaupt erst zum ersten Mal öffentlich präsentiert. Der zeitliche Bogen spannt sich vom sehr frühen Schaffen der Wienerin Ende der 1960er-Jahre bis zu ganz frischen Erzeugnissen aus dem heurigen Jahr, in dem Bertlmann am 28. Februar ihren 80. Geburtstag gefeiert hat. "Mit ihrem Werk hat Renate Bertlmann es einem breiten Publikum sicher nicht leicht gemacht", sagte Belvedere-Generaldirektorin Stella Rollig am Donnerstag. Bevor man also die Stiegen hinauf in die Ausstellungsräume im Obergeschoß erklimmt, wird man via Tafel vor "sensiblen Inhalten, die sich mit Sexualität, Gewalt und Tod beschäftigen" und "verstörend" wirken könnten, gewarnt.
Mit ihrem tabubesetzten, teils als peinlich geltenden und dem Kitsch durchaus zugetanen Symbolrepertoire arbeitet sich die Künstlerin von jeher vorrangig an Fragen der Geschlechter- und damit verbundenen Machtverhältnissen ab. "Es ist erstaunlich, wie konstant meine Arbeit bis heute ist. Das sehe ich erst jetzt, als ich die Chance bekommen habe, Werke aus fünf Jahrzehnten zu zeigen", sagte Bertlmann, die 2017 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet wurde, am Rande der Presseführung zur APA. Den roten Faden ihres Schaffens benennt sie mit "Pornografie, Ironie und Utopie".
Chefkuratorin Luisa Ziaja wies darauf hin, dass diese "zentrale Protagonistin der feministischen Avantgarde" schon früh ihr für sie typisches Vokabular entwickelt habe. Phallus und Vulva, die schwangere Braut, der Rollstuhl, Schnuller und Skalpellmesser tauchen demnach in dieser chronologisch aufgebauten Gesamtschau - der bisher größten Bertlmann-Retrospektive - immer wieder auf. Mal ragen scharfe Klingen aus herzförmigen Brüsten ("Ex Voto", 1985) , mal penetriert die Künstlerin in der die Entjungferung thematisierenden Performance "Deflorazione in 14 Stazioni" (1978) mit messerbesetzten Schnullerfingern einen Leintuchschlitz, mal stecken zig Messer im Körper einer Braut ("Wurfmesserbraut", 1979).
So kämpferisch die mit diversen Materialien gefertigten Objekte auch sind, so ironisch sind sie gleichzeitig. Ein überdimensionaler goldener Pimmel liegt in Mullbinden gehüllt in einem brutkastenähnlichen Glasschrank ("Corpus Impudicum Arte Domitum", 1981), je sieben Phalli stecken in Kardinalsgewändern und Soldatenuniform, grellbunte Schmetterlinge erweisen sich bei genauerem Hinsehen als beflügelte Penisse ("Diverse Farphalle Impudiche", 1983). Und in der Schwarz-Weiß-Fotoserie "Renée ou René" spielt Bertlmann im Herrenanzug nicht nur mit Genderfluidität, sondern legt auch die Lächerlichkeit des männlichen Dominanzgehabes bloß, in dem sie mit übersteigerten Lustgrimassen und fiktivem Penis onaniert.
Die Ästhetik von Bertlmanns Schaffen ab den späten 80ern fasst die Schau als letztes von vier Kapiteln - nach "Experimente in weiblicher Wehrhaftigkeit", "Zorn und Zärtlichkeit" und "Verletzlichkeit und Eigensinn" - unter dem Motto "Kitsch als lustvoller Tabubruch" zusammen. Überbordende Farbigkeit, Flitter und Glitter - kurzum der schlechte Geschmack - sollen uns hier etwas über die Verfasstheit der Gesellschaft erzählen, meint Ziaja. Davon zeugt auch die aus dem heurigen Jahr stammende und damit jüngste Arbeit dieser vielfältigen Würdigung. Sie heißt "Drag Queen" und ist der bis dato letzte Zugang zur langjährigen Serie "Enfant Terrible". Miniaturkleiderpuppen stecken in opulenten Kostümen voll Tüll, Rüschen und Pailletten. Anstelle der Köpfe ragt je ein Dildo aus dem Kragen.
"Es hat sich ein bisschen was geändert, aber nicht fundamental", kommt Bertlmann gegenüber der APA zu einem wenig erfreulichen Resümee. "Wir leben in einer Phallokratie, in einer Welt der Gewalt und des sexuellen Missbrauchs. Nach wie vor wird alle zwei Minuten auf der Welt eine Frau vergewaltigt. Das war schon vor 50 Jahren so."
(S E R V I C E - "Renate Bertlmann. Fragile Obsessionen" im Belvedere21, ab Freitag und bis 3. März 2024, Katalog zur Ausstellung erscheint im November; www.belvedere.at)
Zusammenfassung
- Mit 312 roten Glasrosen auf Fleischspießen auf der Biennale di Venezia 2019 hat sie als erste Einzelkünstlerin im Österreich-Pavillon für Aufsehen gesorgt.
- Da war Renate Bertlmann Mitte 70 und hatte bereits 5.000 Werke geschaffen.
- Mit einer üppigen Retrospektive im Belvedere21 lässt sich die Arbeit dieser spät entdeckten Vertreterin der feministischen Avantgarde nun eingehend entdecken.
- Anstelle der Köpfe ragt je ein Dildo aus dem Kragen.