De Keersmaeker entfesselt bei den Festwochen einen Sturm
Der Untertitel des neuen Stücks "EXIT ABOVE" der belgischen Starchoreografin lautet "after the tempest / nach dem Sturm" - eine Anspielung auf William Shakespeare. Was sich durch den Tanz und das Stück selbst zieht, ist eindeutig dieser Sturm. Gleich zu Beginn wirbelt der französische Tänzer Solal Mariotte, der an diesem Abend immer wieder herausragt, fulminant in einem Lichtkegel auf der Bühne unter einer weißen Plastikplane, die wie eine Qualle auf der schwarzen, minimalistischen Betonbühne schwebt. Seinen lockigen Blondschopf wirft er wie ein Rockstar im Takt der Musik schnell vor- und rückwärts, seitwärts, im Kreis. Sein Körper rollt, schwebt, wirbelt und fällt erschöpft zusammen.
Peu à peu erscheint hinter ihm das Rosas-Ensemble, aus dem Dunkeln ins Licht. Dann herrscht Stille. Lange. Fast unangenehm lange. Vielleicht befinden wir uns jetzt im Auge des Sturms. Vielleicht sind die 13 Tänzer und Tänzerinnen der Sturm. Vielleicht sind wir es. Die Grenzen sind an diesem Abend fließend.
Hier wütet auch ein anderer Sturm, jener, den Walter Benjamin in seinem Essay "Angelus Novus" heraufbeschworen hat. Einige Wortfetzen tauchen auf der Bühnenwand auf. "Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm", zitiert ihn in engelsgleicher Stimme die 23-jährige Meskerem Mees, eine herausragende, flämische Singer-Songwriterin äthiopischer Herkunft. Aber am Anfang war das Gehen und ganz im Sinne von "Mein Gehen ist mein Tanzen", einem Grundprinzip all ihrer choreografischen Konstruktionen, führt uns De Keersmaeker an diesem Abend zu den Wurzeln des Tanzes und der Popmusik zurück. Dabei erforscht sie die Anspannung zwischen vereintem Marsch und einsamen Wandern.
Einer ihrer Tänzer, Carlos Garbin, spielt akustische Gitarre, denn im Auge dieses choreografischen Sturms steckt ein altes Lied: der "Walkin' Blues". De Keersmaeker lud drei Künstler dazu ein, eine Reihe von Variationen rund um dieses Lied des legendären Bluesmanns Robert Johnson zu komponieren. Der Song, der 1930 von Son House geschrieben wurde, handelt von einem Menschen, der sich gehend fortbewegen muss.
Die Lieder von Meskerem Mees zu den jaulenden Gitarrensaiten von Carlos Gabin sind wie ein poetischer, melancholischer Spaziergang. Eine Zeit lang gehen die Tänzer und Tänzerinnen einfach nur nach vorne und zurück. Vor und zurück. Wiederholungen sind, wie wir wissen, typisch für De Keersmaeker. Dann wird beschleunigt, es wird auf der Stelle mit den Füßen gestampft, synchron in Gruppen, oder im Alleingang. Dann, wenn einen die Monotonie fast schon in Trance versetzt hat, wird es schneller. Die Musik von Jean-Marie Aerts, dem Soundarchitekten der belgischen 80er-Jahre-Rockformation TC Matic, erzeugt feurige Beats, die bis in die Sitze der Volksoper pulsieren.
Auch die schwitzenden Tänzer verlieren allmählich ihre Trikots und Röcke. Ab und zu erstarren sie in Tableaux vivants und mimen Gesten des Schocks, der Missgunst, der Verführung. Das beeindruckende Ensemble hat wie immer starke Persönlichkeiten, darunter Abigail Aleksander, Lav Crnčević, Ariadna Navarrete Valverde und José Paulo dos Santos. Ihre Körper haben die schönsten und unterschiedlichsten Formen und Farben. Eine großartige Szene, in der sie husten, rülpsen, Kotzgeräusche machen und dann erschöpft zusammenfallen, so als hätten sie die ganze Nacht durchgetanzt, sorgt für wohl verdienten Zwischenapplaus.
Am Ende legt sich der Sturm wieder, und wir kehren zurück zu Shakespeare: "We are melting into thin air", singt Mees. Wir lösen uns auf in dünne Luft. Und das Publikum antwortet darauf mit einem stürmischen Applaus.
(S E R V I C E - "EXIT ABOVE" im Rahmen der Wiener Festwochen in der Volksoper, Währinger Straße 78, 1090 Wien. Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker, Von und mit Abigail Aleksander, Jean Pierre Buré, Lav Crnčević, José Paulo dos Santos, Rafa Galdino, Carlos Garbin, Nina Godderis, Solal Mariotte, Meskerem Mees, Mariana Miranda, Ariadna Navarrete Valverde, Cintia Sebők, Jacob Storer. Musik: Carlos Garbin, Meskerem Mees, Text/Lyrics: Meskerem Mees, Wannes Gyselinck, Bühne: Michel François, Licht: Max Adams, Kostüme: Aouatif Boulaich. Weitere Aufführung am heutigen Freitag. www.volksoper.at)
Zusammenfassung
- Vielleicht war Gehen noch nie so aufregend wie gestern Abend in der Wiener Volksoper.
- Es stürmte und jaulte auf der Bühne, wo die Wurzeln des Blues und die Beats von Shakespeare aufeinandertrafen.
- Die Choreografie von Anne Teresa De Keersmaeker "EXIT ABOVE" nimmt uns mit in einen fulminanten Sturm.
- Einer ihrer Tänzer, Carlos Garbin, spielt akustische Gitarre, denn im Auge dieses choreografischen Sturms steckt ein altes Lied: der "Walkin' Blues".