Ulrich Tukur liebt es, altmodisch zu sein
Ulrich Tukur kommt mit seinem Hund zum Interview. Beim Gespräch in Berlin fällt ihm das Smartphone auf dem Tisch auf. Eine Erfindung, auf die er gerne verzichtet.
Frage: Herr Tukur, was für ein Handy haben Sie?
Antwort: Ich habe ein altes Handfernsprechgerät. Ich bin ein Smartphone-Verweigerer, wahrscheinlich der letzte. Menschen, die ohne diese vermaledeiten Leuchtschachteln nicht mehr existieren können, deprimieren mich. Natürlich besitze ich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, einen Laptop, aber den macht man am Abend mit spitzen Fingern auf, und das reicht dann auch. Ich brauche ein Telefon zum Telefonieren und vielleicht für eine SMS.
Frage: Das heißt, Sie haben noch so ein Tastentelefon?
Antwort: Ich zeig's Ihnen mal. (Tukur holt ein altes Handy heraus.) Das ist formschön, neuzeitlich und elegant.
Frage: Unter Hipstern in Berlin wieder sehr beliebt.
Antwort: Ach, wirklich? Ich hatte nie etwas Anderes, außer natürlich in jenen fernen Tagen, als ich wie alle anderen nichts dergleichen besaß. Wissen Sie, die Erkenntnis, dass man scheinbar der letzte wirkliche Mensch in Bus und Bahn und übrigens auch auf einem venezianischen Vaporetto ist, ist einigermaßen phantastisch. Meine Zeitgenossen sind zwar sichtbar - aber sie sind nicht da, wo sie sind. Sie hängen in irgendeiner Wolke und schauen einen nicht an, schauen nicht raus und sehen auch nicht den Campanile von San Marco.
Frage: Sind Sie eigentlich ein altmodischer Mensch?
Antwort: Wie kann man denn in einer Welt, die den Menschen zwingt, sich mit Maschinen zu verbinden und die jede Autonomie Schritt für Schritt abschafft, anders als altmodisch sein? Vielleicht bin ich sogar reaktionär. Aber weil man leider nicht in der Zeit zurückspringen kann, habe ich mir das Theater als Fluchtpunkt gewählt. Mein Lebensthema war: "Mir passt diese Welt um mich herum nicht, ich baue mir meine eigene." In der wunderbaren Welt des Theaters oder des Films geht das. Da kannst du ein König sein, ein Laternenanzünder, ein romantischer Liebhaber, Bankräuber oder Narr, und all diese Rollen habe ich 40 Jahre lang mit großer Begeisterung gespielt. Dafür bin ich wirklich dankbar.
(Tukur erinnert sich zurück, an frühere Kollegen wie Uwe Bohm und Peter Zadek. Als der Fotograf während des Gesprächs Bilder macht, kommt Tukur auf sein Hemd zu sprechen.)
Das ist übrigens ein Unterhemd, das in einem Lagerraum auf der Schwäbischen Alb die letzten neunzig Jahre originalverpackt überstanden hat. Der vergessene und zufällig wiederentdeckte Restbestand einer Herrenstrickwarenfabrik aus den 1920er Jahren.
Frage: Haben Sie nicht auch schwedische Militärstiefel?
Antwort: Woher wissen Sie das? Ja, Stiefeletten von 1940. Auch die waren fabrikneu.
Frage: Und einen Kamelhaarmantel.
Antwort: Von Hans Albers.
Frage: Ist der wirklich von Hans Albers?
Antwort: Das kann ich nicht mehr nachprüfen, ich glaube aber schon. Ein betagter Herr, der Hans Albers noch persönlich kannte, hat ihn mir nach einer Theateraufführung geschenkt und gesagt: "Ich werde jetzt alt. Hier haben Sie eine Zigarre, die hat er zu seinem letzten Geburtstag bekommen. Die schenke ich Ihnen. Und dann diesen Kamelhaarmantel."
Frage: Nach vielen Jahren in Italien leben Sie jetzt in Berlin. Angeblich mit einem Kohleofen.
Antwort: Das ist gelogen, ich habe die Geschichte erfunden, um meinen Nachbarn zu ärgern (lacht). Wir leben in Schöneberg in einer Alt-Berliner Wohnung mit ehemaligem Dienstbotentrakt, ohne Personal, aber mit Spül- und Waschmaschine. Aber sagen Sie das bitte niemandem weiter.
Frage: Und wie nehmen Sie die Stadt wahr?
Antwort: Als riesig und unübersichtlich. Ich war 1984/85 hier und spielte "Ghetto" an der Freien Volksbühne unter der Regie von Peter Zadek. In dieser Zeit habe ich Berlin wirklich geliebt. Die Stadt war eingemauert, hing am Tropf des Westens und trotzdem fühlte man sich ungeheuer frei. Berlin träumte von einstiger Größe und war dabei still und entspannt. Das hat sich radikal geändert. Jetzt ist diese Stadt immer noch schillernd und faszinierend, aber man kriegt sie einfach nicht in die Hand. Nichts ist, alles ist ständig am Werden. Sie besteht aus vielen, unterschiedlichen Kiezen und man muss sich eben seine passende Collage machen. Mir ist Berlin heute schlichtweg zu groß. Ich kann Wien zu Fuß durchlaufen und kriege ein Gefühl für die ganze Stadt, auch Hamburg, sogar Paris und Rom. Ich habe übrigens seit einiger Zeit wieder Sehnsucht nach Italien.
Ach.
Die Menschen dort rühren mich. Zwar ist es in vielen Bereichen ein dysfunktionales und anstrengendes Land - deswegen sind wir auch gegangen - aber die Menschen sind entspannt und von großer Offenheit, sie haben einen Benimm, der bei uns wegbröckelt. Ich habe 20 Jahre in Venedig und der Toskana gelebt, dort gehört es zur Mentalität der Menschen, dich nicht zu beurteilen, sondern dir mit Neugier entgegenzutreten und großzügig zu sein.
Frage: Was meinen Sie mit Benimm?
Antwort: Ich meine Höflichkeit. Es gibt auch bei uns viele respektvolle Menschen, aber der allgemeine Ton ist ruppiger und besserwisserisch. Die Menschen in Italien haben eine Art Mitte, ein Selbstverständnis, das uns ganz offensichtlich abgeht. Die Italiener stehen zu sich, wie übrigens andere Europäer auch, sie mögen sich, sind gelassen und kochen gut. Wir Deutschen mögen uns nicht, aber unsere Küche ist nun wirklich nicht so schlecht, dass sie diesen ritualisierten Selbsthass rechtfertigte. Das hat offensichtlich andere Gründe, die wie Blei in den Köpfen der Menschen liegen und einfach nicht gehen wollen - wir wissen, dass eine der Hauptursachen immer noch im Zweiten Weltkrieg liegt.
(Im Laufe des Gesprächs geht es auch um die 1920er und die TV-Serie "Babylon Berlin". Tukur stellt die These auf, viele Menschen seien heute unterfordert. Eine Gesellschaft, die angekommen und reich sei, lasse die Dinge laufen, klage nichts ein und beginne zu zerbröseln.)
Das erleben wir jetzt - eine Gesellschaft, die nach 70 Jahren Frieden und Wohlstand müde ist, unmutig, selbstgerecht und sich nicht mehr fühlt. Und weil jeder Mensch auf dieser Erde einen Unterschied machen und einen Fußabdruck hinterlassen möchte, ramponiert er gerne Dinge, die bis dahin funktionierten. Dazu gehört die sinnlose Zerstörung von Sprache und die Zersplitterung der Gesellschaft in absurd viele Interessengruppen, so dass jeder Gemeinschaftssinn flöten geht.
Frage: Aber dürfen wir uns nicht all diesen Problemen widmen, also auch einer geschlechtergerechten Sprache?
Antwort: Natürlich darf man. Aber man sollte nicht. Wir haben wirklich drängende Probleme: kaputte Infrastrukturen, einen brutalen Krieg vor der Haustür, eine Bildungsmisere, eine meuternde Natur, eine überalterte Bevölkerung und eine Politik, die das Gendern offensichtlich wichtiger nimmt als die beherzte Selbstverteidigung in einer Welt autokratischer Systeme.
Frage: Jetzt klingen Sie sehr konservativ.
Antwort: Und wenn schon.
Frage: Sie haben bei der Aktion #allesdichtmachen mitgemacht, mit der Leute aus der Kulturszene die Politik in der Coronakrise kommentierten. Manche haben danach gesagt, das sei ein Fehler gewesen. Wie sehen Sie das?
Antwort: Das war kein Fehler. Das war vielleicht blauäugig und nicht auf allerhöchstem satirischen Niveau, aber es war trotzdem der ehrliche Versuch, sich gegen die behauptete Alternativlosigkeit einer hysterischen Einschlusspolitik zu wehren. Dass wir damit nicht so danebenlagen, sehen wir heute. Die öffentliche Resonanz auf unsere Aktion war allerdings von radikaler Humorlosigkeit.
Frage: Wie meinen Sie das?
Antwort: Wir wurden sofort in die Skandalecke getreten, irgendwelchen opaken politischen Zirkeln zugeordnet. In meinem und Jan Josef Liefers' Fall wurde sogar nach Berufsverbot geschrien, aber um die Sache hat man nicht gestritten. Der öffentliche Aufschrei stand in keinem Verhältnis zu dem, was wir lanciert hatten, und zeigte deutlich, in welch' seelischer Schieflage sich unser ganzes Land und seine hysterisierte Gesellschaft befinden.
Frage: In Ihrem Leben stößt man immer wieder auf eine Anekdote. Stimmt es, dass Sie früher "FAZ"-Todesanzeigen aufgehängt haben?
Antwort: Stimmt. Mein Vater hatte in den 60er, 70er Jahren die "FAZ" abonniert. Als mir klar wurde, dass auch ich eines Tages den Weg alles Irdischen würde gehen müssen, wurde das ein Thema und ich fing an, Schädel und Skelette zu malen. Irgendwann fielen mir die Zeitungs-Todesanzeigen auf, hinter denen der Kopf meines Vaters jeden Morgen am Frühstückstisch verschwand. Es waren auch noch Eiserne Kreuze darunter, mit denen an die Gefallenen des Weltkriegs erinnert wurde. Ich fand das herrlich morbid und grafisch so interessant, dass ich die Wände meines Kinderzimmers damit tapezierte. Meine Mutter hat einen Schreikrampf gekriegt. Ich muss etwa 11, 12 gewesen sein - ein Alter, in dem man vorsichtig anfängt, Hermann Hesse und Georg Trakl zu lesen. Man setzt sich mit dem Leben und der Endlichkeit auseinander. Man leidet theatralisch. Aber es hatte doch bei allem eine kokette Leichtigkeit, denn der Tod stand ja fern am Horizont. Als ich beim Einschlafen einen letzten Blick auf meine Kinderzimmerwand warf, begann ich aber doch zu ahnen, wie ungeheuerlich das ist - dieses Leben.
Frage: Und was ist dieses Leben?
Antwort: Ein absurdes, wundervolles, abgründiges, herrliches, beängstigendes Theaterstück, dessen Autor wir nicht kennen. Wir wissen, dass eines Tages der Vorhang fällt, aber ob uns jemand applaudiert, wissen wir nicht. Auch nicht, welche Rolle wir gespielt haben. Das einzig Beruhigende ist, dass wir alle im selben Stück stecken. Und das ist das, was mir die Menschen liebenswert macht. Das Leben ist nicht zu verstehen. Trotzdem ist es wunderschön.
Zur Person: Ulrich Tukur ist Schauspieler, Musiker und Schriftsteller. Im "Tatort" des Hessischen Rundfunks spielt er den Ermittler Felix Murot. Mitgespielt hat er zum Beispiel in den Filmen "Stauffenberg", "Das Leben der Anderen", "John Rabe" oder "Und wer nimmt den Hund?". Mit seiner Band, den Rhythmus Boys, spielt er in den kommenden Monaten in etlichen Städten. Als Autor veröffentlichte er etwa den Roman "Der Ursprung der Welt".
Zusammenfassung
- "Tatort"-Schauspieler Ulrich Tukur wird am nächsten Freitag 65 Jahre alt.
- Im Interview erzählt er, warum ihn Smartphones nerven, weshalb er mit der heutigen Gesellschaft hadert - und wieso er früher Todesanzeigen in der "FAZ" faszinierend fand.
- Beim Gespräch in Berlin fällt ihm das Smartphone auf dem Tisch auf.