Rund 100 Verdachtsfälle in Österreich zu neuer Virusvariante
Bei vollständiger Ausbreitung ist die Mutation nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen um 50 Prozent infektiöser als die bisher dominante Virusvariante. Das würde bedeuten, der Reproduktionsfaktor - also wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt - würde um etwa 0,5 steigen. Derzeit liegt der Faktor bei 0,97. Das heißt, ein mit SARS-CoV-2 Infizierter steckt einen weiteren Menschen an. Würde der Reproduktionsfaktor auf 1,5 steigen, hieße das, dass zehn Infizierte 15 weitere anstecken. Die Infiziertenzahl würde sich innerhalb weniger Wochen veracht- oder gar verzehnfachen. "Die gute Nachricht: Alle bisherigen Maßnahmen nützen auch gegen B1.1.7.", sagte Anschober. "Wir müssen die Maßnahmen noch einmal ganz konsequent umsetzen. In ganz Europa wird nachjustiert."
Man sei aber nicht zuletzt wegen der Entwicklung der neuen Variante auf die Bremse gestiegen, was die Maßnahmen nach dem geplanten Ende des Lockdowns am 24. Jänner betrifft, erläuterte der Gesundheitsminister. "Wir hatten ein fast fertiges Konzept, was den 24. Jänner betrifft." Die Situation werde überall in Europa analysiert, man stehe in engem Kontakt miteinander. Eine Prognose der Ausbreitung sei sehr schwierig. Nichtsdestotrotz will die Regierung in den kommenden Tagen ein Konzept für die weiteren Maßnahmen präsentieren. Was die weitere Entwicklung betrifft, zeigte sich Anschober dennoch "vorsichtig optimistisch": "Es gibt jeden Tag mehr Geimpfte, und wir haben jetzt die schwierigste Witterung."
Der Ressortchef sagte, dass derzeit gerade die Einreisebedingungen geprüft werden. "Es gibt ja intakte Landeverbote für Großbritannien, Südafrika und andere Regionen." Man sehe sich die Einreiseverordnungen im Hinblick auf Testmöglichkeiten an, und man wolle das Kontrollnetz für die Variante B 1.1.7. "massiv verstärken", sagte Anschober. Das betreffe einerseits das Sentinel-Messwerk bei niedergelassenen Ärzten, die bei positiven Tests Abstriche nehmen und die Proben an die MedUni schicken. Dabei seien bisher vier Verdachtsfälle auf B 1.1.7. aufgetaucht. Ein zweiter Punkt sei das Messsystem über Kläranlagen, ein dritter Punkt sei, bei PCR-Tests abzuklären, um welche Virusvariante es sich handelt.
Der Mikrobiologe Andreas Bergthaler sagte, man gehe davon aus, dass es sich bei den "irgendwo zwischen 70 und 100 Verdachtsfällen" nicht nur um einzelne Cluster handelt, sondern dass die Virusvariante schon breitflächiger vorhanden ist. "Genaue Zahlen können wir noch nicht nennen, da gibt es noch zu wenige Stichproben." Ein Verdachtsfall bedeutet übrigens per Definition, dass eine Mutation des Virus bestätigt ist, die Experten aber noch nicht wissen, welches Genom bei dem Virus sonst vorhanden ist. Dies erfolgt dann in der sogenannten Sequenzierung, bei dem das gesamte Erbmaterial des Virus aufgeschlüsselt wird, um sicher sagen zu können, um was für eine Variante es sich handelt. Das nimmt dem Forscher zufolge etwa sieben Kalendertage in Anspruch. Das Ziel der Wissenschafter sind 400 Ganzgenom-Sequenzierungen pro Woche.
Bergthaler sprach auch die Kläranlagen an: Deren Monitoring hatte etwa am Donnerstag zu ersten Meldungen über das Vorhandensein der Virusvariante im Wiener Abwasser geführt. Das Monitoring der Kläranlagen soll flächendeckend die größten Anlagen des Landes umfassen. Damit soll das Abwasser von knapp der Hälfte der österreichischen Bevölkerung wöchentlich oder zumindest zweiwöchentlich geprüft werden. "Man kann da auch das Anrollen der nächsten Welle gut beobachten", erläuterte der Mikrobiologe. Naht eine solche, steigt die Viruslast im Abwasser.
Der Forscher appellierte, "die Sache ernst zu nehmen, es ist eine neue Situation". Das Virus habe erstaunlich viele Varianten gebildet. Je mehr Menschen mit Infektionen es gebe, umso mehr habe der Erreger auch die Chance, sich zu verändern und Varianten zu bilden.
Die Virologin Christina Nicolodi sagte, viele Mutationen passieren über Patienten mit schwachem Immunsystem, bei denen sich das Virus lang im Körper aufhalten kann. Das Problem bei der britischen und der möglicherweise noch infektiöseren südafrikanischen Variante ist offenbar die deutlich höhere Übertragungslast. "Es wurden bisher keine Änderung bei den Krankheitsverläufen festgestellt. Aber es gibt eine höhere Ansteckungsgefahr und daher sind auch mehr schwere Verläufe möglich. Dadurch gibt es mehr Druck auf das Gesundheitssystem, und womöglich eine Änderung der Zahlen bei den Todesfällen", erläuterte die Forscherin.
Die gute Nachricht: Beide derzeit zugelassenen Impfstoffe dürften auch bei den neuen Varianten wirken. "Man schaut sich die Entwicklung des Virus an und bei Geimpften schaut man sich die Wirkung auf die neue Variante an", so Nicolodi. Und das habe gezeigt, beide Impfstoffe sind wirksam. Bei dem sich im Zulassungsverfahren befindlichen Vektorimpfstoff von AstraZeneca wird die Wirksamkeit auf neue Varianten ebenfalls mitgeprüft. Anschober sagte, er rechne mit einer Entscheidung über die Zulassung für die Vakzine von AstraZeneca am 29. Jänner.
Zum Thema Impfen sagte der Gesundheitsminister, sein Ziel sei, die Durchimpfung der österreichischen Bevölkerung "im Laufe des Sommers" erreicht zu haben. Dänemark hatte als Ziel ausgegeben, dies bis Mitte Juni zu erreichen. Das sei möglich, wenn alles - Zulassungen, Produktion, Auslieferung - klappt. "Das wäre der best case."
Zusammenfassung
- Man sei aber nicht zuletzt wegen der Entwicklung der neuen Variante auf die Bremse gestiegen, was die Maßnahmen nach dem geplanten Ende des Lockdowns am 24. Jänner betrifft, erläuterte der Gesundheitsminister.
- Die gute Nachricht: Beide derzeit zugelassenen Impfstoffe dürften auch bei den neuen Varianten wirken.
- Anschober sagte, er rechne mit einer Entscheidung über die Zulassung für die Vakzine von AstraZeneca am 29. Jänner.